Eine gute Frage

Seit einer Woche war ich nun schon im Westen Schottlands unterwegs; das Wetter war gut zu mir gewesen und hatte mich weitaus besser behandelt als ich es erwartet hätte. Obwohl ich ein eher blasser Typ bin, hatte ich auf meinen Wanderungen in der frischen Luft schon bald eine gesunde Farbe angenommen, und die idyllische Landschaft entschädigte mich reichlich für die Mühe, meinen wieder einmal viel zu voll gepackten Rucksack und den auch nicht gerade leichten Photo-Koffer über Stock und Stein zu schleppen. Mein Weg hatte mich das Loch Lomond entlang geführt, in eine Gegend, in der hinter jeder Kurve Photo-Motive auf mich lauerten, eines schöner als das andere, und ich hatte bereits wesentlich mehr Filmmaterial verbraucht als für diesen Zeitpunkt eingeplant war, doch sollte mir für eine so reiche Ausbeute an guten Bildern nichts zu teuer sein; auf keinen Fall würde ich mich von der sprichwörtlichen, aber wohl nur ein ungerechtfertigtes Vorurteil darstellenden Sparsamkeit der Schotten anstecken lassen, sondern weiter drauflosknipsen was das Zeug hielt.

 

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Seit meiner letzten Rast waren doch schon mehr als zwei Stunden vergangen, und ich begann das Gewicht meines Marschgepäcks zu spüren. Daher war ich ganz froh, als ich am Seeufer eine Holzbank sah, auf der ich mich für eine Weile ausruhen und eine Kleinigkeit zu mir nehmen konnte. Ich machte es mir bequem, packte meinen Proviant aus und genoß den Blick über das Loch. Weit und breit war keine Menschenseele zu entdecken, und die Stille wurde nur durch einen alten schottischen Folksong unterbrochen, den ich leise vor mich hinpfiff, während ich ein Photo vom gegenüberliegenden Ufer machte, wo einige Schafe weideten. Als ich mein bescheidenes Mahl beendet hatte und mich ausreichend gestärkt fühlte meine Wanderung zur nächsten Jugendherberge fortzusetzen, stand ich schließlich auf, verstaute mein Jausenpaket und die Bierdose, die ich mit Genuß geleert hatte und machte mich wieder auf den Weg. Es lag noch ein schönes Stück vor mir, und ich mußte nun zügig weitermarschieren, wenn ich die Herberge noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichen wollte.

 

Als ich bereits etwa eine Viertelstunde lang unterwegs war und schnell noch ein Bild von einer malerischen alten Steinbrücke über einen kleinen Bach machen wollte, stellte ich zu meinem Schrecken fest, daß mein Photoapparat nicht im Koffer war; ich mußte ihn wohl bei meiner letzten Rast auf der Bank liegen lassen haben. Ich konnte es einfach nicht fassen, daß mir so etwas passieren konnte, daß ich so unachtsam und dumm gewesen war, meine teure, heiß geliebte Kamera, die mir mehr bedeutete als jeder andere Besitz, einfach so liegen zu lassen und aufs Spiel zu setzen. Wie lange hatte ich sparen müssen, um mir  dieses Luxusmodell mit allen erdenklichen technischen Raffinessen, das mich nie enttäuscht oder im Stich gelassen hatte, leisten zu können. Wie meinen Augapfel hatte ich sie bis jetzt gehütet. Oft hatte ich sie unter meinem Kopfkissen oder gar im Schlafsack versteckt, wenn mir mein Schlafplatz nicht ganz sicher schien, und einmal hatte ich sie sogar mit gezücktem Messer verteidigt, als in Marokko zwei Burschen in in einer eins amen, finsteren Gasse begehrliche Augen auf sie geworfen hatten und sie mir mit Gewalt abjagen wollten. Und nun hatte ich sie völlig kampflos und achtlos aufgegeben, möglicherweise für immer verloren, und mit ihr die wunderschönen Aufnahmen, die ich heute schon gemacht hatte.


Das durfte einfach nicht sein! Ich rannte los, legte den Weg in einem Tempo zurück, wie ich es mir mit meinem schweren Gepäck sonst wohl niemal zugetraut hätte, und erreichte schließlich die Bank, schweißgebadet, keuchend und völlig außer Atem, aber unsagbar glücklich, als ich meinen Photoapparat dort liegen sah – offensichtlich gänzlich unversehrt und um keinen Zentimeter von der Stelle gerückt, wo ich ihn hingelegt hatte.


Auf der Bank saß nun ein Mann, der ruhig vor sich hin blickte und seine Pfeife rauchte. Sein vom Wetter gegerbtes und von unzähligen Falten zerfurchtes Gesicht war von einem schneeweißen, sorgfältig gestutzten Vollbart eingrahmt, und er trug eine dieser wollenen Schirmmützen, wie man sie in Schottland recht häufig trägt, und einen dicken, offensichtlich handgestrickten Pullover. Wie er da so saß, ging eine große Ruhe und heitere Gelassenheit, eine besondere Würde von ihm aus, wie man sie bei uns in der Stadt nur selten findet.


Vor lauter Erleichterung, meinen Schatz glücklich wiedergefunden zu haben, hätte ich mich beinahe hingekniet und dem Schutzpatron aller Photographen (wenn es ihn wohl auch nicht gab) gedankt. Statt dessen, da ich die Kamera nicht einfach so nehmen und gleich wieder mit ihr davonlaufen wollte, gab ich lautstark meiner Freude und Verwunderung Ausdruck, daß ich noch einmal Glück gehabt hatte und ohne Schaden davongekommen war. Der Alte blickte kurz auf, blinzelte mir gutmütig zu und bemerkte nur ganz trocken in seinem schweren, kehligen Dialekt, der zumeist für Ausländer kaum verständlich ist: "Why worry, me laddie? Who should 'ave taken it?"

 


YOUTUBE-VIDEO: LOCH LOMOND


   


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