AUF EIGENEN BEINEN

Ein Bericht

Dieser Text ist allen Menschen gewidmet, die mir und anderen Behinderten
durch ihr Verständnis und ihre Hilfe das Leben erträglicher machen.
Er richtet sich aber auch an alle, die sich die weitreichenden Konsequenzen einer Behinderung
nicht vorstellen können oder wollen und uns durch ihre Gedankenlosigkeit oder Gleichgültigkeit
das Leben noch schwerer machen als es sein müßte.
Er soll schließlich auch allen anderen Betroffenen Mut machen,
ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und für die Verbesserung ihrer Situation zu kämpfen.

Der Untertitel bezieht sich auf "Bericht an eine Akademie" von Franz Kafka,
auch seine Erzählung "Die Verwandlung" war eine Inspiration.
Vor allem haben mich aber Thomas Bernhards autobiographische Werke "Der Atem" und "Die Kälte"
dazu ermutigt, meine eigenen Erfahrungen niederzuschreiben.

 


...Ob´s edler im Gemüt,
Die Pfeil´ und Schleudern des wütenden Geschicks erdulden,
Oder sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden...
William Shakespeare



„Mein Gott, jetzt ist alles aus!“
Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf ging, als ich im Stiegenhaus am Boden lag und mich nicht mehr rühren konnte. Ich war die Stiege hinuntergegangen, mit der rechten Schuhspitze am Rand einer Stufe hängengeblieben, ge­streckt nach vorne gestürzt und am Fuße der Treppe genau mit der linken Stirnseite aufgeschlagen, da ich dummerweise beide Hände in die Taschen meines neuen Trenchcoats gesteckt und nicht mehr rechtzeitig herausgebracht hatte. Der Kopf tat mir weh, und das ganze Gewicht meines Oberkörpers lag schwer auf meinen vor der Brust abgewinkelten Armen, die nun auch zu schmerzen begannen. Dass mir die Beine überhaupt nicht wehtaten, beunruhigte mich aber noch viel mehr.
„Hilf mir, ich kann nicht aufstehen!“
Mein Freund Wolfram, den ich besucht hatte, war noch in der Türe gestanden und hatte meinen Sturz beobachtet, ohne ihn jedoch verhindern zu können. Ich hatte noch einige Worte mit ihm gewechselt und möglicherweise sogar dabei noch zu ihm zurückgeschaut, was mir im Nachhinein als Dummheit erscheinen musste. Er kam zu mir und zog meine Hände unter meinem Körper hervor, wollte aber sonst nichts an meiner Lage verändern, was wohl auch in dieser Situation das Vernünftigste war.
„Hängen meine Knie in der Luft“? -
„Nein, die liegen auf den Stufen.“
Jetzt war mir alles klar; wenn ich meine Knie nicht spüren konnte, obwohl sie auf dem Boden auflagen, dann stand es wirklich schlimm um mich. Ich musste sofort an meinen Vater den­ken, der vor 16 Jahren gestorben war, nachdem er fast zwei Jahre lang vollständig gelähmt und verzweifelt den Tod herbeigesehnt hatte, nicht einmal fähig, diesem Alptraum selbst ein Ende zu setzen. Ich hatte mich mit ihm nie besonders gut verstanden, da er mich wiederholt geschlagen hatte, doch war mir sein Schicksal trotzdem gewaltig an die Nieren gegangen und mir von da an als das größte denkbare Unglück erschienen. Vor nichts hatte ich mehr Angst gehabt als davor, dass auch mir einmal etwas Derartiges passieren könnte, und nun war genau das eingetreten. Die Hilflosigkeit, mit der ich seiner Hilflosigkeit gegenübergestanden war, hatte mich sprachlos vor Entsetzen gemacht, die plötzliche Konfrontation mit dem Unvorstellbaren hatte mich nicht mehr losgelassen. Ich dachte auch an meine Mutter, die nun schon zum zweiten Mal ein derartiges Unglück miterleben  musste, und sie war noch dazu schon fast achtzig. Wie würde sie wohl diese Hiobsbotschaft verkraften? Ich wagte es mir nicht vorzustellen. Es war schon schlimm genug, wenn eine Familie einmal von einer solchen Tragödie heimgesucht wurde, aber so etwas zweimal durchmachen zu müssen überstieg wohl alle Kräfte. Wie auch immer, wir müssten sie und natürlich zuerst die Rettung verständigen. Es war noch ein Glück im Unglück, dass Wolfram gleich zur Stelle war und Hilfe holen konnte, sonst hätte ich möglicherweise stundenlang, ja vielleicht sogar die ganze Nacht in dem finsteren Stiegenhaus liegen müssen, bis mich jemand zufällig gefunden hätte. Doch wie sagte schon Torbergs selige Tante Jolesch so treffend: „Der Himmel soll einen vor allem bewahren, was noch ein Glück ist.“


Nach einer Viertelstunde, die mir wie eine Ewigkeit erschien, kam endlich die Rettung, und ich machte die Sanitäter darauf aufmerksam, dass wahrscheinlich meine Wirbelsäule verletzt war und sie mich mit äußerster Vorsicht hochheben und auf die Tragbahre legen und mich ganz langsam über die drei Stockwerke der engen und steilen Wendeltreppe hinuntertragen müssten, sollte ich wenigstens noch eine minimale Chance zur Heilung haben. Die ganze Zeit hatte ich, wie man sagt, einen kühlen Kopf bewahrt und war nicht in Panik verfallen, sondern hatte systematisch und logisch wie immer meine Situation analysiert und an alle notwendigen Schritte gedacht. Ja, den Kopf hatte ich tatsächlich nicht verloren, dachte ich mit einem Anflug von Galgenhumor. Eigentlich war ich nur mehr ein nach wie vor gut funktionierender Kopf mit einem nutzlosen Körper als Anhängsel. Nachdem sie mich in den Rettungswagen verfrachtet hatten, begannen sie mich routinemäßig nach meinen Personalien, Krankenkasse, Versicherungsnummer und Blutgruppe zu fragen, während wir mit Blaulicht und Sirene zum Krankenhaus rasten. Als wir bei der Notaufnahme ankamen und mich die Sanitäter dort gleich von der Tragbahre schwungvoll und energisch auf den Untersuchungstisch hieven wollten, musste ich sie zu größter Vorsicht ermahnen. Zu dritt hoben sie mich schließlich hinüber, wobei einer meinen Kopf stützen und stabilisieren musste. Dann schälten sie mich aus meinen Kleidern, was vor allem bei dem langen Trenchcoat ein Problem war, und den Rollkragenpulli konnte ich mir unmöglich über den Kopf ziehen lassen, den müssten sie mir einfach vom Leib schneiden - darauf kam es nun wirklich nicht mehr an. Nun begannen gleich die ganzen Routinechecks, Puls, Blutdruck, Sensibilität, Fragen nach früheren Krankheiten, Operationen, Allergien, dann zum Röntgen. Als sie die Bilder hatten, sagte der Chirurg, der dort gerade das Kommando hatte, er brauche noch ein CT (Computertomographie) und ein MR (Magnetresonanz) von der HWS (Halswirbelsäule), damit er die kritische Stelle ganz genau unter die Lupe nehmen könne. CT war mir schon lange ein Begriff, aber MR sagte mir überhaupt nichts. Offensichtlich war das die neueste und präziseste Diagnosemöglichkeit, die eine weitere Verfeinerung des Durchleuchtungsprinzips darstellte. Ich wurde in einen anderen Trakt gerollt, wieder auf eine spezielle Unterlage hinübergezogen und festgeschnallt. Dann schoben sie mich mit dem Kopf voran in einen engen Tunnel und schärften mir ein, den Kopf auf keinen Fall zu bewegen. Dann schloss sich die Klappe und ich lag allein in dieser Röhre, die nur schwach erleuchtet war.


Es war, als läge ich schon im Sarg, dachte ich, und ich konnte nicht ein­mal sagen, ich sei bereits so gut wie tot. Das wäre nämlich noch eine krasse Untertreibung gewesen, denn das Leben, das mich erwartete, war möglicherweise schlimmer als der Tod. Leise setzte nun ein elektronisches Geräusch ein, das sich zu einem tiefen Brummen steigerte und die Innenwände der Röhre leicht vibrieren ließ. Zuerst kam das Geräusch nur in kurzen Stößen, mit längeren Intervallen; dann erhöhte sich die Frequenz und ließ einen gewissen Rhythmus erkennen, der etwas Hypnotisches an sich hatte. Ein guter Groove, dachte ich, den könnte man glatt einsamplen und als Rhythmusspur für eine Dancefloor-Nummer verwenden. Ja, ich würde vielleicht zu diesem Rhythmus tanzen, wenn ich meine Beine bewegen könnte. Sogar in dieser akutesten Krise hatte ich - wie ein gänzlich unbeteiligter Beobachter - meine Musikbesessenheit nicht abgelegt, sondern meine existentiellen Probleme durch diese banalen Überlegungen verdrängt, die mir aber doch wenigstens für kurze Zeit eine gewisse Geborgenheit auf einem mir vertrauten Gebiet inmitten lauter völlig neuer Eindrücke und Erfahrungen boten.
Nach etwa einer Viertelstunde holten sie mich wieder heraus, schoben mich zum Ausgangspunkt zurück und ließen mich für eine Weile allein. Dann eröffnete mir der Chirurg, sie müssten mich gleich operieren. Ich hatte ohnehin nichts anderes erwartet und mich längst damit abgefunden, da ich in dieser Situation nichts mehr zu verlieren hatte. Selbst die wohl jedem bekannte Angst vor einem chirurgischen Eingriff wurde durch die Hoffnung auf Hilfe mehr als aufgewogen. Dabei war es gerade für mich immer ein absolut feststehendes Prinzip gewesen, mich auf gar keinen Fall auf das Risiko einer Wirbelsäulenoperation einzulassen, da mir das Schicksal meines Vaters unauslöschlich als abschreckendes Beispiel vor Augen stand. Er hatte nämlich nicht wie ich einen Unfall gehabt, sondern plötzlich aus heiterem Himmel unter leichten Lähmungserscheinungen gelitten und war deshalb in die Klinik eingeliefert und dort untersucht worden. Ein Professor auf der neurochirurgischen Abteilung, der als große Kapazität auf seinem Gebiet galt, hatte krankhafte Veränderungen an der Halswirbelsäule diagnostiziert und ihm dringend zu einer Operation geraten, da sonst eine Ausbreitung und Verstärkung der Lähmung zu befürchten sei. Mein Vater hatte nach einigen Tagen im Vertrauen auf die Autorität dieses „Fachmannes“ seine Einwilligung zu diesem Eingriff gegeben. Das Ergebnis war niederschmetternd gewesen: Unmittelbar nach der Operation war mein Vater von Kopf bis Fuß gelähmt und absolut hilflos. Zuerst vertröstete man ihn und uns, das hätte nichts zu bedeuten und er würde sich bald erholen und wieder „ganz der Alte“ sein, wie gesagt wird. Als jedoch Tage und Wochen ohne nennenswerte Besserung vergingen, wurde es uns langsam, aber sicher klar, dass hier ein „Kunstfehler“ passiert sein musste, dass man ihn offensichtlich „verpfuscht“ hatte. Natürlich hatten wir nichts beweisen können und wussten, dass wir bei einer etwaigen Klage auf verlorenem Posten gestanden wären. Ich war damals dreiundzwanzig, und der Schock saß tief, zu tief, um ihn jemals vergessen zu können.


Zehn Jahre später, als ein guter Freund durch einen Bandscheibenvorfall unter furchtbaren Schmerzen und zeitweiliger Lähmung litt und sich nach fruchtlosen Therapieversuchen mit Homöopathie und Naturheilmethoden letztendlich doch für eine Operation entschied (die sich schließlich als unumgänglich erwiesen hatte und glücklicherweise erfolgreich verlief), hatte ich wirklich um ihn gezittert, da mir die möglichen Folgen einer derartigen Entscheidung nur allzu deutlich bewusst waren. Nun lag ich selbst da und hatte gar keine andere Wahl als mich operieren zu lassen. Ich wusste, ich war am absoluten Tiefpunkt meines Lebens angelangt, und es konnte nicht mehr schlimmer kommen. Der Unfall war um etwa 6 Uhr abends passiert, und nun war es nach Abschluss aller Formalitäten und Untersuchungen fast 9 geworden. Man rollte mich in den Vorraum des OP, wo Ärzte und Schwestern in grünen Mänteln, Hauben und Gesichtsmasken hektisch hin- und herliefen, sich die Hände wuschen und Handschuhe anlegten. Man stülpte auch mir eine Kappe übers Haar und verabreichte mir eine Injektion über eine Leitung im linken Arm, die sie mir schon vorher gelegt hatten. Ich merkte, dass ich langsam müde wurde. Es blieb nicht mehr viel Zeit, Angst zu haben oder mir Sorgen zu machen, ich konnte mich nur noch diesen Gesichtern hinter den grünen Masken anvertrauen und hoffen, sie würden ihr Bestes tun...
 
 
 
Ich erwachte in einem großen Raum bei gedämpftem Licht. Überall standen technische Geräte mit Leuchtdioden, Oszillographen, Unmengen von Schaltern und Kabeln, wovon einige zu meiner Brust führten. Auch an meinen Armen und mei­nem Hals hingen Schläuche, die diverse Flüssigkeiten zu und aus meinem Körper zu transportieren schienen. Mehrere Krankenschwestern überwachten die Geräte, hinter einem Wandschirm rechts von meinem Bett war lautes Stöhnen und Röcheln zu hören. Anscheinend lag ich auf der Intensivstation, aber das war wohl nach einer so schweren Operation so üb­lich. Ich hatte den Eingriff also überlebt und schwebte wohl auch nicht in akuter Lebensgefahr. Es würde weitergehen, aber wie? Früher hatte ich manchmal den optimistischen Spruch über den ersten Tag vom Rest des Lebens belächelt, aber nun hatte dieser Spruch für mich eine neue, bedrohliche Bedeutung bekommen. Was für ein Leben würde das sein, und würde ich Einfluss darauf haben?
„Aha, er ist schon wach!“ -
Eine der Schwestern war auf mich aufmerksam geworden und kam schnell an mein Bett.
„Wie fühlen Sie sich?“ -
Ich räusperte mich und krächzte mit einer Stimme, die noch heiserer als normalerweise so früh am Morgen war, „Na ja, der Hals tut mir ein bisschen weh“. -
„Das kommt von dem Schlauch, den man Ihnen für die Narkose eingeführt hat; aber das wird bald nachlassen. Auch der Schnitt wird wahrscheinlich etwas unangenehm sein.“
Ich hatte erwartet, dass sie mich am Nacken operieren würden, doch der Verband war rechts vorne, und eine blutig rote Flüssigkeit tröpfelte von dort durch einen dünnen Schlauch in ein Kunststoffsäckchen, das an dem Bettgitter befestigt war.
Inzwischen war auch ein Arzt bei mir, der wohl an der Operation beteiligt gewesen war.
„Haben Sie Schmerzen, können Sie sich an alles erinnern?“ -
„Mir ist alles vollkommen klar, ich habe gestern einen Unfall gehabt und bin operiert worden.
Wie ist es gelaufen?“ -

„Es war ein langwieriger Eingriff, wir haben zirka fünf Stunden gebraucht, aber es hat keine Komplikationen gegeben. Wir müssten eine Bandscheibe entfernen, um das Rückenmark zu entlasten, und dann die Wirbel mit Dübeln und Schrauben fixieren. Der Spinalkanal war in diesem Bereich verengt, und ein Blutgerinnsel hat auf das Rückenmark gedrückt.“ -
„Verengt, sagen Sie? Durch den Unfall, oder schon vorher ?“ -
„Es handelte sich anscheinend um eine pathologische Verwachsung, nicht sehr ausgeprägt, die sich aber mit der Zeit verstärken hätte können.“
Mit einem Schlag wurde mir klar, dass meine langjährigen unterschwelligen Ängste, ich könnte die Krankheit meines Vaters geerbt haben, wohl nicht unbegründet gewesen waren. Schon seit einigen Jahren hatte ich immer wieder ein merkwürdiges Kribbeln in den Fingern und Zehen gespürt und auch unter ständigen Verspannungen im Nacken zu leiden gehabt, was mein Arzt auf verschiedenste Gründe wie zum Beispiel eine Amalgamallergie zurückgeführt, aber weder überzeugend geklärt noch durch homöopathische Präparate oder seine anderen Alternativtherapien geheilt hatte. Hätte ich nicht diesen Unfall gehabt, wäre mir in späteren Jahren dieses Los also wahrscheinlich trotzdem nicht erspart geblieben. Man kann seinem Schicksal wirklich nicht entgehen, dachte ich, aber es hätte sich nicht auch noch so beeilen müssen. Gerade jetzt musste mir das passieren, als es mir so gut wie schon lange nicht gegangen war und ich voller Pläne und Hoffnungen steckte, drauf und dran, mein Leben endlich in den Griff zu bekommen.
„In den Griff bekommen“ - Das war für mich zu einer stehenden Redensart geworden, wenn mich jemand nach meinem Befinden fragte. „Alles im Griff!“ Und nun hatte ich, der perfekte Planer und Organisator, der gefinkelte Problemlöser, buchstäblich gar nichts mehr im Griff, es war mir mit einem Schlag alles aus den Händen geglitten. Ich war noch nicht einmal neununddreißig, hatte also noch fast mein halbes Leben vor mir, wenn auch nicht gerade ein Leben, wie es für die meisten meiner ehemaligen Schulfreunde und Studienkollegen wohl selbstverständlich war, nämlich eine berufliche Karriere und ein harmonisches Familienleben. Statt dessen war ich ein bunter Hund, ein ziemlich eigenwilliger Junggeselle und Freiberufler ohne feste Bindungen, konnte zwar einerseits meine Freiheit genießen, sehnte mich hin und wieder aber doch nach etwas mehr Sicherheit und Geborgenheit, wenn es mir auch weder an Geld noch an Freunden bzw. Freundinnen mangelte.
„Und wie stehen meine Chancen, dass ich wieder gesund werde?“ -
„Es ist jetzt natürlich noch viel zu früh, um da etwas sagen zu können. Wir müssen verschiedene Tests durchführen und dann abwarten, wie sich die Physiotherapie auswirkt. Können Sie mit den Fingern etwas spüren?“-
„Ja, ich spüre die Bettdecke, aber ich kann die Finger nicht bewegen.“ -
„Versuchen Sie, die Arme zu bewegen.“
Ich konzentrierte mich und schob dann tatsächlich zuerst den rechten, dann den linken Arm langsam über die Decke, dann gelang es mir sogar, den rechten Arm leicht anzuheben. Dazu war ich vor der Operation nicht fähig gewesen, es hatte sich also wenigstens etwas gebessert!
„Wie ist es mit den Beinen? Können Sie die Zehen bewegen?“ -
„Nein, aber ich spüre Ihre Hand, Sie halten gerade meine linke große Zehe, jetzt die rechte.“
„Na, das ist für den Anfang nicht einmal so schlecht“, meinte der Arzt und tauschte einen Blick mit einem anderen Arzt, der hinzugekommen war und die Tafel mit meiner Fieberkurve studierte.
„Der Herr Professor wird Sie wahrscheinlich bei der Visite noch genauer untersuchen.“
Zwei Schwestern kamen mit einer Waschschüssel auf einem fahrbaren Gestell, Waschlappen und Handtüchern. Sie nahmen die Decke weg und zogen mir das Nachthemd aus, was wegen der vielen Kabel und Schläuche gar nicht so einfach war. Mir war diese ungewohnte Situation etwas unangenehm, aber da ich mich nicht selbst waschen konnte, war ich eben bei dieser intimen Verrichtung auf Hilfe angewiesen und musste diese Prozedur wohl oder übel über mich ergehen lassen. Beim Waschen konnte ich meinen ganzen Körper wieder deutlich spüren, was mir einen weiteren Grund zur Hoffnung gab. Anscheinend hatte die Operation doch etwas bewirkt. Als die eine der Schwestern, eine attraktive Rothaarige, bei meiner Leistengegend angelangt war, begann sich unter ihren Händen bei mir etwas zu regen und anzuschwellen. Unter anderen, intimeren Umständen wäre mir das durchaus angenehm gewesen, doch hier kam es mir mehr als ungelegen. Ich muss wohl ungefähr so rot wie ihr Haar geworden sein, wusste nicht mehr, wo ich hinschauen sollte und wäre am liebsten in der Matratze versunken. Sie aber schmunzelte nur, machte einfach weiter und meinte ganz trocken: „Sie haben sich aber anscheinend schon ganz gut von der Operation erholt.“
Ich war erleichtert, dass sie die Sache so locker nahm. Sie war wohl von Natur aus nicht schüchtern oder prüde und hatte vermutlich bei ihrer Arbeit im Laufe der Zeit so einiges erlebt, dass sie nicht mehr so leicht zu schockieren oder in Verlegenheit zu bringen war. Ihr amüsiertes Grinsen mochte vielleicht sogar bedeuten, dass sie meine spontane Reaktion quasi als eine Art stummes Kompliment betrachtete.
Auf einmal wurde mir nun bewusst, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt nur an meine Arme und Beine gedacht und um deren Funktion gebangt hatte. Ich hatte nur befürchtet, nie wieder gehen zu können und dabei nicht einmal geahnt, dass ich um ein Haar meine Männlichkeit verloren hätte. Ich hatte mich zwar nie als toller Hengst und Super-Macho gefühlt und mich eher auf meine geistige Potenz verlassen, doch hatte mir die Tatsache, dass mich dieser Teil meines Körpers im entscheidenden Moment nie im Stich gelassen hatte, schon eine gewisse Sicherheit gegeben und zu meinem Selbstwertgefühl als Mann beigetragen. Na schön, ich war also noch immer ein Mann, wenigstens in dieser Hinsicht, doch was nützte mir das schon in dieser Lage? Ich hatte zu diesem Zeitpunkt keine feste Partnerin, und sogar wenn ich eine gehabt hätte, wäre sie bei mir und mir treu geblieben? Und war es nun für mich nicht so gut wie unmöglich geworden, die Frau fürs Leben zu finden? Wer würde sich schon freiwillig eine derartige Last aufbürden, wenn schon das Zusammenleben mit einem gesunden Partner oft eine mühsame und aufreibende Erfahrung bedeutet und heute von vielen nur noch als unzumutbare Einengung empfunden wird? Andererseits ist es schon schlimm genug für einen Behinderten mit einer Familie, die ihm eine gewisse Geborgenheit bieten kann; für einen Alleinstehenden ohne Geschwister, Kinder oder sonstige Verwandte (außer meiner Mutter gab es da nur einen jüngeren Cousin, zu dem ich keinen Kontakt pflegte) würde alles noch viel schwerer werden.
Ich war an der „Endstation Sehnsucht“ angelangt; die Aussicht, für den Rest meines Lebens auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein, war für mich der schlimmste Aspekt meiner Behinderung.


In den ersten Stunden und Tagen konnte ich noch gar nicht die volle Tragweite meiner Behinderung abschätzen. Ich ahnte nur, dass eine Fülle unvorstellbarer Probleme auf mich zukam, die sich erst nach und nach bemerkbar machen würden. So wurde mir nun ein Dauerkatheter gesetzt, wie man mir erklärte. Da eine Querschnittlähmung im allgemeinen auch mit einer Blasen- und Mastdarmlähmung verbunden ist, muss man über den Harnleiter diesen Katheter in die Blase durch den gelähmten Blasenschließmuskel einführen und so künstlich eine Entleerung herbeiführen. Ein Dauerkatheter ist zwar praktisch, wird die Leitung aber nicht regelmäßig abgeklemmt, so dass sich die Blase immer wieder etwas füllen kann, ist die Gefahr einer Blasenschrumpfung gegeben. Auch ist auf gewissenhafte Katheter Pflege mit speziellen Desinfektionsmitteln und den Austausch des Katheters nach einer gewissen Zeit zu achten, damit es zu keiner Harnwegsinfektion kommt, die sogar bis zur Niere aufsteigen und ernste Schäden verursachen kann. All das hatte ich nicht gewusst, hatte nie daran gedacht, dass mein Vater oder andere Rollstuhlfahrer solche Probleme haben könnten. Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht, was für eine gewichtige Rolle dieses Problem während meiner Rehabilitation und danach in meinem Alltag zu Hause spielen würde.


Man teilte mir mit, dass meine Mutter und ihre Ziehschwester draußen warteten und mich besuchen wollten, doch seien zurzeit auf der Intensivstation keine Besuche möglich; man würde sie aber später wenigstens für kurze Zeit zu mir hereinlassen. Wir tauschten also nur über eine Schwester die nötigsten Informationen aus, zum Beispiel, wer noch zu verständigen war. Wolfram würde ohnehin die Neuigkeit an die anderen Mitglieder unserer Clique weitergeben, und die Neuigkeit würde schnell die Runde machen. Es wurde Zeit fürs Frühstück, und es stellte sich heraus, dass man Kaffee in Rückenlage schwer trinken kann, ohne die Hälfte davon auf die Brust tröpfeln zu lassen, besonders, wenn man die Schale nicht selbst halten kann. Ich bekam daher einen Schnabelbecher in den Mund gesteckt, an dem ich nun - fast wie ein Säugling - nuckeln konnte. Dazu ließ ich mir ohne besonderen Appetit eine halbe Buttersemmel verabreichen - ich hatte für das traditionelle, langweilige „continental breakfast“ nie viel übrig gehabt und mein „englisches“ Frühstück immer ausgiebig und abwechslungsreich zelebriert, am liebsten mit Zeitung und passender Musik. Da ich nur leichtes Fieber gehabt hatte und auch sonst keine postoperativen Komplikationen auftraten, wurde ich schon am nächsten Tag auf die neurochirurgische Abteilung verlegt und kam in ein Zimmer mit fünf anderen Patienten. Zwei von ihnen hatten ihre Operation schon hinter sich, wie ich an ihren Verbänden erkennen konnte, die anderen warteten noch auf einen Termin. Es war sofort klar, dass ich der schwerste Fall unter ihnen war, der einzige, der sein Bett nicht verlassen konnte. Dementsprechend groß war auch das Interesse an meinem Unfall und meinem Zustand sowie die Bereitschaft, mir zu helfen und auf mich Rücksicht zu nehmen.
 
Für mich begann nun eine Phase, die mir und allen, die sie miterlebten, noch heute unbegreiflich erscheint. Man hätte nämlich erwarten können, dass ich, gezeichnet vom Schock des erlittenen Unfalls und seiner Folgen, die schlimmste Zeit meines Lebens durchmachen und in Angst und Verzweiflung verfallen würde. Wunderbarerweise war genau das Gegenteil der Fall: Die überaus aufmerksame und gewissenhafte Behandlung durch alle Ärzte, besonders aber durch einen der Professoren, der mir gleich durch die leutselige und humorvolle Abwicklung seiner Visiten aufgefallen war, gaben mir Mut und Zuversicht. Auch die Betreuung durch die Schwestern und Pfleger konnte man nur als vorbildlich bezeichnen. Ich hätte nie im Leben erwartet, einmal so verwöhnt zu werden, und genoss es, obwohl ich es nicht gewöhnt war, mich wie ein Pascha bedienen zu lassen. Alles geschah auf behutsame und unaufdringliche Weise, und die lockere Art, wie die Angestellten miteinander und mit den Patienten umgingen, schuf eine positive Atmosphäre, die geradezu ansteckend war. Ich stellte natürlich keine großen Ansprüche und konnte als gewöhnlicher Kassenpatient ohne Zusatzversicherung auch keine erstklassige Betreuung erwarten, doch schien man mir trotzdem alle Wünsche förmlich von den Augen abzulesen und meine Probleme und Bedürfnisse schon früher als ich selbst zu erkennen.
Schon vor Beginn der Besuchszeit (man nahm es hier glücklicherweise nicht so genau) kamen meine Mutter und die „Tante“ ins Zimmer und überhäuften mich mit Fragen. Sie konnten ihre Besorgnis und ihren Kummer kaum verbergen und waren sehr erstaunt, mich in ziemlich gelöster und guter Stimmung vorzufinden. Natürlich war meine körperliche Schwäche und Hilflosigkeit offensichtlich, aber wenigstens psychisch hatte ich mich anscheinend von dem Unfall bereits gut erholt. Nur einige Minuten später kam meine alte Freundin Margit, die gerade auf einer anderen Abteilung als Turnusärztin arbeitete, ins Zimmer. Da sie ihre Arbeit und ihre Familie sehr in Anspruch nahmen, hatte ich sie leider schon lange nicht mehr gesehen; umso mehr freute ich mich nun über ihren Besuch, und es beruhigte mich ungemein, sie in meiner Nähe zu wissen.
„Du machst ja schöne Sachen“, begrüßte sie mich. „Auf diese Art wollte ich dich nicht wiedersehen. Dafür hättest du nicht unbedingt eine Stiege hinunterköpfeln müssen!“
Das war der neckische, kumpelhafte Ton, der immer zwischen uns geherrscht hatte, doch er konnte nicht ganz ihre Besorgnis und ihren Kummer verdecken. Sie hatte einen Nachtdienst hinter sich und sah so müde und erschöpft aus, dass ich mir um sie fast ebenso große Sorgen machte wie sie sich um mich. Sie hatte mit dem Oberarzt über mich sprechen können und als Berufskollegin natürlich eine genauere Auskunft über meinen Zustand bekommen, den sie mir nun aus dem medizinischen Fachchinesisch in ein allgemein verständliches Deutsch über­setzte. Der Grundtenor davon war, meine Lage sei zwar ernst, aber sicherlich nicht hoffnungslos. Mehrere Anzeichen sprächen dafür, dass sich mein Zustand noch wesentlich verbessern könne; das sei ihre ehrliche Überzeugung und nicht nur als ver­harmlosende Beschwichtigung gemeint, allerdings müsse ich auch meinen Teil dazu beitragen.
Kaum war sie gegangen (sie hatte nur eine kleine Verschnaufpause für ihren Besuch genützt), kamen auch schon die nächsten Besucher: Mein Freund und Studienkollege Rick (der eigentlich Richard hieß, aber diesen Spitznamen wegen seiner Schwärmerei für Humphrey Bogart in „Casablanca“ verpasst bekommen hatte), und Birgit, die noch am selben Abend durch ihren Freund Wolfram von meinem Unfall erfahren hatte. Beiden war anzusehen, dass ihnen mein Anblick naheging.
„Danke für die Blumen, aber ich bin noch nicht gestorben“, versuchte ich sie aufzumuntern. „Unkraut vergeht nicht so schnell, darauf könnt ihr euch verlassen.“ -
„Apropos Unkraut, wer kümmert sich jetzt um deine Pflanzen?“ fragte Rick. „Ich könnte sie leicht in der Mittagspause gießen, ich bin in ein paar Minuten von meinem Büro in deiner Wohnung, und deine Mutter müsste nicht immer extra hinfahren und die drei Stock hinaufsteigen, das wird ihr sicher zu viel werden.“
Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber meine schöne Kokospalme und die riesige Yucca, vor allem aber mein Bonsai brauchten wirklich verlässliche Pflege, und dafür war er tatsächlich der richtige Mann. Die Kette der Besucher wollte an diesem Nachmittag nicht abreißen; selbst als die offizielle Besuchszeit schon zu Ende war, schaute noch rasch eine Freundin, die in der Nähe des Spitals wohnte, nach der Arbeit auf einen Sprung vorbei. Offenbar hatte die Neuigkeit wirklich rasch die Runde gemacht, ich war in meinem Freundes- und Bekanntenkreis unfreiwillig zur traurigen Sensation und zum Brennpunkt der allge­meinen Anteilnahme geworden. Da ich keine Familie hatte, waren mir meine Freunde und Freundinnen umso wichtiger gewesen, und ich hatte immer viel für die Pflege dieser Freundschaften getan und mir gern Zeit dafür genommen. Nun war es für mich ein beruhigendes Gefühl, in meiner schwersten Zeit nicht im Stich gelassen zu werden, sondern mehr Zuwendung und Hilfsbereitschaft erleben zu dürfen, als ich es mir erhofft hätte.


Der Besucherstrom versiegte auch in den darauf folgenden Wochen nicht, und meine Zimmergenossen, das Pflegepersonal und auch meine Mutter kamen gar nicht aus dem Staunen her­aus, was sich da Tag für Tag rund um mein Bett abspielte. Speziell die anderen Patienten blickten etwas neidisch auf die Scharen weiblicher Besucher, die mich zumeist mit Küsschen und Umarmungen begrüßten und müssten mich wohl für einen ausgemachten Casanova halten, doch handelte es sich dabei nur um einige meiner „Verflossenen“, mit denen ich noch immer freundschaftliche Kontakte pflegte, und langjährige platonische Freundinnen, denen ich mich gerade deshalb so verbunden fühlte, weil keine gegenseitigen Besitzansprüche unsere Beziehungen belasteten. Die Ärzte und Schwestern müssten fast den Eindruck gewinnen, sie hätten es mit einer prominenten Person zu tun, und meine Mutter, die mich eher für einen verschlossenen Einzelgänger gehalten hatte (Ich hatte immer ver­sucht, meine Eltern aus meinem Privatleben herauszuhalten), war nun erstaunt, auf einmal an meinem Krankenbett so viele Menschen kennenzulernen. Die Sitzgelegenheiten reichten zu­meist nicht aus, die vielen Blumen konnte ich nur an die Schwestern weiterschenken, sollte sich das Krankenzimmer nicht in eine Aufbahrungshalle verwandeln, und die vielen Süßigkeiten (ich war allgemein als Naschkatze bekannt) hätten ohne weiteres ausgereicht, fünf Personen zu einer dauerhaften Verstopfung zu verhelfen. Ich wurde mit homöopathischen Medikamenten, Bio-Obst, guten Ratschlägen für Meditationsübungen, Bachblütenmischungen und heilenden Edelsteinen bedacht, da sich viele meiner Freunde privat oder beruflich mit esoterischen und alternativen Heilmethoden beschäftigten. Eine Freundin brachte mir ein Päckchen Vibhuti, diese angeblich von Sai Baba, der von vielen als Avatar verehrt wird, materialisierte Asche, die sie persönlich aus seinen Händen empfangen hatte. Man las mir aus meinen Lieblingsbüchern vor, die ich damals weder halten noch umblättern konnte und hielt mich über Börsenkurse und Fußballergebnisse auf dem Laufenden. Vor allem aber gab man mir ein Gefühl von Geborgenheit, ohne das ich diese Situation zweifellos niemals so gut überstanden hätte. Ich schwebte gewissermaßen auf einer Wolke von positiven Schwingungen, war voller Optimismus und guter Laune, sprühte vor Ideen und Plänen und war mit meiner Umwelt in hundertprozentigem Einklang. Man konnte meinen, ich sei selten so glücklich wie in diesen Tagen und Wochen gewesen. Natürlich hatte dieser Optimismus, diese Euphorie, auch reale Gründe, die man nicht als esoterische Hirngespinste abtun konnte: Ich machte fast täglich kleine, aber doch deutliche Fortschritte, mein Zustand stabilisierte sich.
Es waren sehr häufig Schwestern und Pfleger, ja sogar Ärzte in unserem Zimmer, doch da ich nicht einmal die Glocke, die über meinem Bett hing, bedienen konnte, war ich sogar dafür auf die Hilfe meiner Zimmergenossen angewiesen. Ich konnte mich weder schnäuzen noch kratzen, natürlich auch nichts essen oder trinken, keine Zeitungen oder Bücher lesen (was für einen Bücherwurm wie mich schon sehr schlimm war) und nur die Musik hören, die leise aus dem in der Glocke eingebauten Radio drang. Fatalerweise konnte ich damit nur Ö 2 und die für diesen Sender typische stupide volkstümliche Musik und seichte Schlager empfangen, was mich doch etwas deprimierte. Wie schon zuvor angedeutet, bedeutet mir Musik, und ich meine damit anspruchsvolle Musik, sei es Jazz, Klassik oder Folklore, ungeheuer viel, ich bin gewissermaßen süchtig danach und bin auch ziemlich stolz auf meine umfangreiche Sammlung an Tonträgern, aus denen ich mir zu beinahe jeder Stimmung oder Situation die passende Musik aussuchen kann. Ich lieh mir einen Walkman (eigentlich ziemlich unpassend für jemanden, der nicht gehen kann) und ließ mir aus meiner Wohnung eine Auswahl von Cassetten bringen, die mich aufheitern und ablenken sollten: Bach, Mozart, Jan Garbarek, W.Ambros, STS, Leonard Cohen, Ravi Shankar. Ich musste leider feststellen, dass ich weder die Kopfhörer aufsetzen noch die Play-Taste drücken oder gar die Cassette wechseln konnte. Tagsüber war das kein Problem, da ja ohnehin immer etwas los war und Leute zur Hilfe da waren. In der Nacht war das natürlich anders, und da ich kaum schlafen konnte, lag ich oft stundenlang bewegungslos in der Dunkelheit, nur der Musik aus meinen Kopfhörern lauschend. Ich hatte zwar auch schon vor meinem Unfall immer wieder unter Schlafstörungen gelitten, doch diesmal war alles ganz anders. Ich war merkwürdigerweise überhaupt nicht müde, sondern völlig frisch, obwohl ich tagelang mit lächerlich kurzen Schlafphasen auskam und die ganze Zeit im Bett verbrachte. Früher hatte ich mich ruhelos von einer Seite auf die andere geworfen und mich dann zumeist in die Bauchlage gerollt. Genau das war mir nun unmöglich; ich war gezwungen, beinahe unbeweglich in der Position stundenlang zu liegen, in der man mich gelagert hatte, und an die Bauchlage war überhaupt nicht zu denken, da sie erstens meine HWS zu stark belastet hätte und ich zweitens im Polster erstickt wäre. Außerdem konnte ich nun nicht aufstehen und mich vor den Fernsehapparat setzen oder mir etwas aus dem Kühlschrank holen. Mit dem Spaziergang um den Häuserblock war auch nichts, doch das hätte mich mitten im Februar auch nicht besonders gereizt, darauf konnte ich noch am ehesten verzichten. Stattdessen lag ich in einem Raum mit fünf Fremden, von denen einer auch noch mit einer Hingabe schnarchte, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Es scheint ein unerbittliches Naturgesetz zu sein, dass gerade die ärgsten Schnarcher am schnellsten einschlafen und mit dem tiefsten Schlaf gesegnet sind. Glücklicherweise kamen sogar in der Nacht alle zwei Stunden die Schwestern zu mir, um mich anders zu lagern, mir etwas zu trinken zu geben und für musikalischen Nachschub zu sorgen. Ich hatte nach einigen Tagen und durchwachten Nächten widerstrebend eingewilligt, Schlafmittel einzunehmen, doch keines der vorhandenen Präparate konnte mir helfen - ich blieb hellwach und zeigte auch tagsüber keine Anzeichen von Erschöpfung. Woher nahm ich diese unerklärliche Energie? Vielleicht lag es an der Fülle neuer Erfahrungen und Eindrücke, die hier auf mich einströmten. Ich war zwar schon einmal anlässlich einer Blinddarmoperation im Spital gewesen, doch ließ sich das nicht mit meiner gegenwärtigen Situation vergleichen.


Schon am zweiten Tag, bald nach dem Frühstück (ich bekam nun sogar Müsli, Orangensaft und Bohnenkaffee), wurde ich zur Physiotherapie gebracht. Ein freundlicher Herr, der für den Transport von Patienten kreuz und quer durch das ganze Spitalsgelände zuständig war, schob mich in meinem Bett durch diverse Gänge und mit dem Lift zum Turnsaal. Da wir bald voneinander wussten, dass ich Dolmetscher war und er längere Zeit in Amerika gelebt hatte, unterhielten wir uns zum Spaß nur mehr auf Englisch, was diese Fahrten für mich wirklich interessant machte, da diese Sprache für mich schon immer eher ein Hobby als nur ein Schulfach oder Arbeit gewesen ist. Hingegen sah ich der Gymnastik im Rahmen der Physiotherapie mit gemischten Gefühlen entgegen. Schon in der Schule hatte ich das Fach Leibesübungen mehr gehasst als alle anderen und war auch als Tollpatsch bekannt, der jeder sportlichen Aktivität aus dem Wege ging, da er sich dabei ja doch nur blamieren würde. Als ich jedoch in den Gymnastikraum geschoben wurde und mich drei nette Therapeutinnen fröhlich in Empfang nahmen, war meine Angst gleich verflogen. Es würde hier offensichtlich nicht so streng zugehen wie in den Turnstunden meiner Mittelschulzeit. Sie schienen über meinen Befund bereits bestens informiert zu sein und begannen gleich, meine passive und aktive Beweglichkeit zu testen. Erwartungsgemäß waren meine Muskeln am Anfang völlig schlaff, doch ich konnte wenigstens meine Arme etwas heben oder zur Seite strecken, was sie mich zuerst ohne, dann mit Widerstand tun ließen. Gleichzeitig wurden meine Beine durchbewegt, dann kamen meine Finger an die Reihe, die noch völlig weich und kraftlos waren. Im Hintergrund war gute Musik zu hören, was natürlich für eine angenehme Atmosphäre sorgte, und wir plauderten bald über Gott und die Welt und stellten dabei fest, dass wir alle mehr oder weniger einen Hang zur Esoterik und Erfahrungen mit Meditation, Bachblüten, Edelsteinen und Akupunktur gemacht hatten.


Jedenfalls machte mir die Turnerei unter diesen Umständen mehr Spaß, als ich gedacht hatte, obwohl ich dabei gehörig ins Schwitzen kam. Zum ersten Mal im Leben begann ich so etwas wie sportlichen Ehrgeiz zu entwickeln, aber zum ersten Mal ging es auch wirklich um etwas, nämlich nicht weni­ger als mein Leben, das ich unter menschenwürdigen Umständen fortsetzen wollte. Das sollte mir schon einige Liter Schweiß wert sein. Nach dem Durchbewegen wurde ich vom Bett auf ein so genanntes Stehbrett hinübergezogen und darauf mit einem breiten Brustgurt festgeschnallt; die Beine wurden in aufblasbare Röhren gesteckt, die Füße stießen an ein Brett, das im rechten Winkel aus der Liegefläche ragte. Man erklärte mir, dass sich diese Vorrichtung mit Hilfe eines Elektromotors um eine Achse schwenken ließ, so dass ich nach und nach aus der Horizontalen in die Vertikale kommen und meinen Kreislauf allmählich an die veränderten Druckverhältnisse gewöhnen könne. Wir tasteten uns behutsam vor, doch bei knapp 45° wurde mir flau im Magen und schwarz vor den Augen. Ich ließ mich schnell zurückschwenken und erholte mich glücklicherweise rasch, nur sah ich nun noch blasser aus als gewöhnlich. Nach einem Schluck schwarzen Kaffee und einer kurzen Pause nahm ich einen zweiten Anlauf. Diesmal erreichte ich genau 45° und hielt es sogar etwa zehn Minuten in dieser Position aus. Meine Therapeutinnen meinten, damit könnten wir fürs erste ganz zu­frieden sein, und wir würden uns am nächsten Tag wiederse­hen und weitermachen.


Nach einigen Tagen begann sich mein Kreislauf zu stabilisieren, und ich konnte immer steilere Winkel am Stehbrett „durch-stehen“. Das Querbett-Sitzen, das mich die beiden ersten Male, obwohl ich dabei von zwei Therapeutinnen gestützt worden war, innerhalb weniger Augenblicke zu Tode erschöpft hatte, begann allmählich erträglich zu werden, und nach etwa einer Woche konnte ich plötzlich ganz unerwartet die Zehen meines rechten Fußes bewegen, zwar nicht immer, wenn ich es versuchte, aber immer öfter. Nach zwei Wochen konnte ich in der Rückenlage bei aufgestellten Oberschenkeln meine Knie öffnen und schließen und sogar die Beine kräftig durchstrecken, wenn meine Füße in der Luft gehalten wurden. Ich trainierte wie ein Besessener, als ginge es um eine Goldmedaille.


Meine Therapeutinnen waren mit mir sehr zufrieden, ich konnte fast täglich bei der Visite dem Professor von neuen Fortschritten berichten und hatte Grund, auf das von mir bis dahin Erreichte stolz zu sein, aber ich durfte mich keineswegs auf meinen Lorbeeren ausruhen, ich würde auch hier, wie bei meiner Arbeit, meinen Perfektionismus voll ausleben, wenn auch auf einem völlig neuen Gebiet. Objektiverweise muss ich rückblickend allerdings feststellen, dass ich die spektakulärsten Erfolgserlebnisse und die für meine weitere Rehabilitation wahrscheinlich entscheidenden Veränderungen nicht meinen eigenen Anstrengungen, sondern der Technik und natürlich der Geschicklichkeit und Geduld meiner Therapeutinnen verdankte, die meine Arme und Hände über Elektroden mit Strom stimulierten und so meinen verkümmerten Nervensträngen die zur Wiederbelebung notwendigen Impulse gaben. Es war faszinierend, zum ersten Mal seit zwei Wochen zu beobachten, wie sich einer meiner Finger wieder zu bewegen begann, zwar zögernd und noch nicht meinem Willen gehorchend, aber immerhin! Dass es sich dabei ausgerechnet um den Mittelfinger meiner linken Hand handelte, fand die jüngste meiner drei „Golden Girls“, wie ich sie insgeheim nannte, besonders komisch. Mit einem schelmischen Grinsen, das ihre Grübchen gut zur Geltung brachte, flüsterte sie den beiden anderen verschwörerisch zu: „Jetzt können wir uns wenigstens sein Hobby vorstellen, was meint ihr?“ Jeden Tag kamen nun weitere Finger dazu, von denen ich bald einige sogar aus eigener Kraft bewegen konnte. Leider erwiesen sich gerade die für das Greifen so wichtigen Daumen als besonders hartnäckig und wollten lange Zeit überhaupt nicht auf die Stimulation reagieren. Außerdem wiesen der linke Daumen und Zeigefinger ein merkwürdig taubes Gefühl auf, das allerdings meinen Tastsinn nicht beeinträchtigte. Da ich nun die Finger nicht nur abbiegen, sondern auch strecken und steif halten konnte, gelang es mir nun auch bald, die Klingel zu betätigen und das Radio einzuschalten, zwei wirklich wesentliche Dinge, die mir ein bisschen Selbständigkeit und Unabhängigkeit sicherten.


Wie ich später hörte, haben Raucher zumeist den Ehrgeiz, sich möglichst bald ohne Hilfe eine Zigarette anzünden zu kön­nen, doch ich hatte andere Prioritäten. Als ein Vertreter einer Heilbehelfsfirma auf die Klinik kam, erkundigte ich mich bei ihm nach Hilfsmitteln, die mir trotz stark eingeschränkter Fingerfunktionen das Schreiben und Essen ermöglichen sollten. In einem der Kataloge, die er mir mitgebracht hatte, entdeckte ich einen Löffel mit einem kegelförmig verdickten Griff und zwei Gummibändern, die ihn an meinem Handgelenk fixieren würden, da ich noch nicht kräftig genug war, ihn in vollem Zustand festzuhalten. Weiters bestellte ich eine Plastikklammer, in der sich ein Schreibgerät von beliebiger Dicke in jedem gewünsch­ten Winkel befestigen ließ und das ich mir über das Handgelenk streifen konnte. Für einen Menschen wie mich, der sowohl pri­vat als auch beruflich immer viel zu schreiben hatte, war es eine Katastrophe gewesen, tagelang, ja wochenlang kein einziges Wort schreiben zu können, nicht einmal den eigenen Namen, der ja einen so wesentlichen Bestandteil der Identität ausmacht. Waren irgendwelche Formulare wie Fragebögen und Erlagscheine zu unterschreiben gewesen, hatte das meine Mutter für mich in Vertretung erledigen müssen. Ich fühlte mich wie entmündigt, ich fühlte mich nicht mehr als vollwertiger Mensch. Wer nicht seine Unterschrift leisten, ja nicht einmal die ominösen drei Kreuze auf ein Blatt Papier malen kann, der ist kein vollwertiger Mensch mehr, dachte ich, der ist auf das Niveau eines Säuglings zurückgefallen oder gar auf das eines Affen, aber sogar dem könnte man es mit etwas Geduld beibringen. Natürlich erscheint mir dieser Standpunkt heute als unsinnig, aber damals, in dieser frustrierenden und verzweifelten Lage doch verständlich. Jedenfalls konnte ich es kaum erwarten, dass der Vertreter mir diesen Schreibbehelf ins Spital brachte. Ungeduldig ließ ich ihn mir sofort über das Handgelenk streifen, mir einen steifen Tischkalender reichen und in einem idealen Winkel auf die Bettdecke legen. Voller Hoffnung, aber auch gleichzeitig mit einer gewissen Angst, begann ich meinen Namen zu schreiben. Würde es meinem Kopf gelingen, wenigstens den Arm, wenn schon nicht die Finger so präzise zu steuern, dass eine lesbare Schrift entstand? Tatsächlich erschien auf dem Papier mein Name, Buchstabe für Buchstabe, zwar wackelig und schief, aber doch eindeutig zu entziffern. Ich hatte es wirklich geschafft! Ich war so stolz, als hätte ich die größte Leistung meines Lebens erbracht, aber ich wollte mich damit längst noch nicht zufrieden geben. Es sollte mir vielmehr ein Ansporn für weitere Leistungen sein, die mich nach und nach wieder in einen „ganzen“ Menschen zurückverwandeln würden.


Wenn es ums Essen, beziehungsweise in meinem Fall ums Füttern geht, drängt sich die Assoziation mit einem Baby natürlich noch eher auf, ist gewissermaßen unvermeidlich. Der Vorgang des Essens ist ja ein äußerst intimer, privater, wie ich finde, ein zutiefst elementares Bedürfnis, und wohl jeder Mensch, aber auch jedes Tier möchte es möglichst ungestört und auf die ihm angenehmste Weise befriedigen, es völlig unter Kontrolle haben, den Ort, den Zeitpunkt, die Speise, die Menge, das Tempo bestimmen, was in der Regel auch zumeist möglich ist, aber doch nur als eine Selbstverständlichkeit angesehen wird. Ich muss zwar einräumen, dass sich die Schwestern und Pfleger die größte Mühe gaben, mir diesen Vorgang angenehm zu gestalten und mir das Essen mit großer Vorsicht und Geduld einflößten, doch konnten sie beim besten Willen den Löffel nicht in dem für mich idealen, weil gewohnten, Winkel führen, und ich musste das Tempo und den Rhythmus durch Nicken oder Kopfschütteln steuern. Nun, mit dem neuen Essbehelf, würde es zwar mühselig werden, aber ich würde wieder alles selbst „im Griff“ haben, wie ich es immer genannt hatte. Da ich das Handgelenk nicht steif halten konnte, musste ich den Ellbogen viel höher als gewöhnlich, nämlich bis in Kopfhöhe, anheben, damit ich den Löffel wirklich zum Mund führen konnte. Auch das war jedoch nur im Sitzen möglich, da in liegender Position die Winkel und Dimensionen für mich noch ungünstiger gewesen wären. Auch stellten Suppen, besonders klare, dünnflüssige Suppen, auf die ich bald verzichtete, für mich ein spezielles Problem dar, da es mir mit den hängenden Handgelenken nur schwer gelang, den Löffel einigermaßen waagrecht zu halten und so das Verschütten der Flüssigkeit zu vermeiden. Dickere Saucen und feste Speisen (die ich mir allerdings vorher zerschneiden ließ) landeten jedoch zumeist ohne größere Schwierigkeiten dort, wo sie hingehörten und nicht auf der Serviette, die man mir vorsorglich umband. Getränke hatte man mir anfangs nur durch Trinkhalme verabreicht, oder aus Schnabelbechern mit einem Deckel, der dem Verschütten der Getränke vorbeugen sollte. Nun wollte ich versuchen, ob ich nicht einen solchen Becher, wenn er nicht zu voll war, mit beiden Händen zugleich vom Tisch heben und an den Mund führen könnte. Als mir auch das auf Anhieb gelang, wusste ich, dass ich wieder einen wichtigen „Schritt“ in Richtung Selbständigkeit getan hatte und dass es irgendwie weitergehen würde. Ich war noch nicht am Ende, wie es mein Vater gewesen war, es gab noch unendlich viel für mich neu zu erlernen, doch das vertrug sich ohnehin gut mit meiner Einstellung, dass man nie zu alt zum Lernen sei. In der Physiotherapie machte ich ebenfalls laufend kleine Fortschritte: Die Finger ließen sich immer besser bewegen und wurden kräftiger, man ließ mich mit Tennisbällen hantieren, sie zusammendrücken und werfen. Die Armmuskeln trainierte ich, indem ich mir kleine Sandsäckchen mit zunehmendem Gewicht um die Handgelenke schnallen ließ und dann die gestreckten Arme nach vorne hob oder die Arme abwechselnd beugte und streckte. Auch das Querbett-Sitzen fiel mir nun allmählich leichter, ich hielt es schon bis zu 10 Minuten aus, ohne dann anschließend bis zur Übelkeit erschöpft zu sein. Auf dem Stehbrett ließ ich mich auf immer steilere Winkel ein, beinahe bis zu 90°, ich wollte endlich dieser Froschperspektive der Liegeposition entrinnen und wenigstens den Gymnastikraum aus einem natürlichen Blickwinkel erleben. Außerdem war es wohl unumgänglich, dass sich mein Kreislauf langsam wieder normalisierte und stabilisierte, wenn sich mein Gesamtzustand entscheidend verbessern sollte.


Ab der zweiten Woche wurde ich nicht mehr in meinem Krankenbett vom Krankenzimmer zum Therapieraum geführt, sondern in einer Mischung aus Rollstuhl und Krankenliege, die sich mit Hilfe einer Hydraulik von der Waagrechten in jede beliebige Sitzposition verstellen ließ. Wenn ich die Therapie hinter mir hatte, blieb ich gleich sitzen und konnte so das Mittagessen am Tisch einnehmen, was für mich viel praktischer war und auch eine Normalisierung einer Standardsituation darstellte, die für mich psychologisch gesehen sehr wichtig war. Ich war nicht mehr ausgeschlossen, ich konnte mit den anderen Patienten an einem Tisch sitzen, mich an ihren Gesprächen beteiligen. Mein Appetit wuchs, das Essen machte mir wieder Spaß, was ja allgemein immer als gutes Zeichen der Genesung angesehen wird. Nach dem Essen ließ ich mich dann allerdings zumeist bald wieder „flachlegen“, da mich das Sitzen anfangs doch ziemlich ermüdete. Nachmittags, vor Beginn der Besuchszeit, legte ich jedoch großen Wert darauf, wieder aus dem Bett geholt zu werden, um meine Besucher sitzend empfangen zu können. Man sollte deutlich sehen, welche Fortschritte ich gemacht hatte, dass ich mich von diesem erschreckend hilflosen Geschöpf der ersten Tage weiterentwickelt hatte und dass man mich noch nicht abzuschreiben brauchte, wie gesagt wird. Wenn ich auch mit der Zeit längere Zeit ohne Ermüdungserscheinungen im Sitzen aushalten konnte, durfte ich deshalb nicht leichtsinnig werden. Obwohl meine Haut laufend eingecremt wurde und ich zur bes­seren Druckverteilung und Polsterung auf einem Gel-Kissen saß, musste ich doch die Gefahr des Wundsitzens, eines Dekubitus, in Betracht ziehen, da ich ja meine Sitzfläche nicht wie jeder andere gesunde Mensch durch Aufstehen entlasten konnte. Auch hier stand mir das Schicksal meines Vaters als abschreckendes Beispiel allzu deutlich vor Augen, seine Betreuung in dem Altenheim, in das man ihn als „unheilbaren Pflegefall“, wie sich die Ärzte auszudrücken beliebt haben, abgeschoben hatte, war eine für seinen Zustand unzureichende gewesen, das Pflegepersonal war offensichtlich sowohl fachlich als auch von der Menge der Patienten überfordert gewesen, doch wäre es meiner Mutter ebenso wenig gelungen, ihn zu Hause zu pflegen, es wäre einfach über ihre Kräfte gegangen. Wie schon zuvor erwähnt, wurde ich alle zwei Stunden anders gelagert, da ich mich im Bett nicht selbst drehen konnte und der ständige Druck auf dieselben Körperpartien bald unangenehm wird und für die Haut gefährlich sein kann. Wie ich später erfuhr, gibt es verschiedene Systeme von Luftmatratzen, die bei Patienten wie mir die Pflege wesentlich erleichtern können, doch war diese Klinik leider in dieser Hinsicht nicht ausreichend ausgestattet, da man es hier anscheinend nur sehr selten mit so extremen Fällen zu tun bekam.
Man sagte mir, dass ich vielleicht schon bald in ein Rehabilitationszentrum verlegt werden würde, da ich bis jetzt so gute Fortschritte gemacht hatte. Dort sei man besser für die Pflege von Querschnittgelähmten gerüstet und verfüge über all die speziellen Hilfsmittel, die in einer „normalen“ Klinik nicht zu finden seien. Auch die Physiotherapie biete dort viel mehr Möglichkeiten für ein intensiveres Training, und ich würde mich dort noch schneller und besser erholen können als auf der neu­rochirurgischen Abteilung der Universitätsklinik. Der Antrag auf Übernahme in das Rehabilitationszentrum sei bereits gestellt, es werde aber doch noch eine Weile dauern, bis dort ein Bett frei werde, und es gebe erfahrungsgemäß immer eine ganze Reihe von Anwärtern für freie Plätze. Obwohl ich mich in dieser Umgebung wirklich wohl und bestens betreut fühlte, konnte ich nun meine Verlegung kaum noch erwarten, mein Ehrgeiz nach einem noch intensiveren Training und damit einer umso schnelleren Heilung war einfach zu groß. Ich würde zwar nicht mehr in meiner Heimatstadt untergebracht sein, sondern doch eine beträchtliche Strecke davon entfernt und würde daher wahrscheinlich nicht mehr so viel und oft Besuch bekommen wie bisher, doch die intensivere Therapie würde mich ohnehin voll in Anspruch nehmen und mir nicht allzu viel Zeit lassen.


Eines Tages teilte man mir mit, ein Herr von der Unfallversicherung werde mich demnächst aufsuchen, um mich zu den Umständen meines Unfalls zu befragen. Zuerst wusste ich nicht, worum es ging, da ich ja niemals eine Unfallversicherung abgeschlossen hatte, aus Skepsis, ja Misstrauen jeder Art von Versicherungen gegenüber, die meiner Meinung nach ja doch nur gerne regelmäßig fette Prämien kassierten und die Städte mit Hilfe des so angehäuften Kapitals durch protzige Stahlbetonburgen verunstalteten, jedoch gar nicht so gerne zahlten, wie sie es in der Werbung immer behaupteten, wenn es tatsächlich zum Versicherungsfall kam. Dann erfuhr ich, dass es sich um die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt handle, bei der man gewissermaßen automatisch pflichtversichert ist, da immer ein kleiner Betrag vom Gehalt als Prämie einbehalten wird. Ich hatte nie an die Möglichkeit eines Unfalls und daher auch nie an die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer Unfallversicherung gedacht, es wäre mir immer als reine Verschwendung erschienen, als hinausgeworfenes Geld, wie man sagt. Ich war ja zeitlebens jedem Risiko aus dem Wege gegangen, hatte eigentlich alles vermieden, was zu einem Unfall hätte führen können, da ich keinerlei Sport trieb, nicht mit dem Auto fuhr und auch nicht mit Waffen oder Maschinen hantierte, die mir gefährlich werden hätten können. Vielmehr hatte ich mich insgeheim eher vor einer schweren, langwierigen Krankheit, vor dem endlosen Dahinsiechen im vorgerückten Alter gefürchtet, da ich gerade in letzter Zeit immer wieder unter verschiedensten gesundheitlichen Problemen, wenn auch keinen schwerwiegenden, so doch lästigen und zum Teil recht schmerzhaften, zu leiden gehabt hatte. Wenn ich an meine Großeltern oder an andere Senioren (es gibt ja keine „alten“ Menschen mehr) dachte, die ihre letzten Jahre mehr schlecht als recht in verschiedenen Pflegeheimen verbracht hatten, erschien mir ein hohes Alter alles andere als erstrebenswert. Es lag auch nicht in meiner Natur, meine Zukunft irgendwelchen Institutionen anzuvertrauen, ich wollte immer nach Möglichkeit alles selbst unter Kontrolle haben. Nun war ich natürlich froh, wenigstens auf diese Weise versichert gewesen zu sein und machte mir sogar Vorwürfe, keine Vorkehrungen in dieser Hinsicht getroffen zu haben. Auch sogar nach dem Unfall hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt keinen Gedanken an die Existenz einer Unfallversicherung ver­schwendet. Finanzielle Fragen waren mir angesichts meiner Lage doch nur allzu banal erschienen und in den Hintergrund getreten, obwohl mir sonst Geld immer wichtig, wenn auch nicht als das Wichtigste erschienen war. Nun wurde mir allerdings plötzlich bewusst, dass es gar nicht auszudenken gewesen wäre, hätte ich zum Zeitpunkt des Unfalls über keine Krankenversicherung und keine Unfallversicherung verfügt, ich wäre nicht nur physisch zerstört, sondern auch finanziell ruiniert gewesen, allein die Operation hätte schon ein Vermögen geko­stet, und auch mein zukünftiges Leben würde ziemlich kostspie­lig werden, wie mir allmählich klar wurde.


Man sagte mir auch, dass das Rehabilitationszentrum von der Unfallversicherung betrieben werde, deshalb wolle man mich wohl zu meinem Unfall befragen. Ein anderer Patient fragte mich dann, ob es ein Arbeitsunfall gewesen sei. Ein Arbeitsunfall? Warum spielte das eine Rolle? Es war doch egal, was für ein Unfall, für mich waren nur die Folgen entscheidend. Ich wurde sofort eines Besseren belehrt und erfuhr, dass es eine ganz entscheidende Rolle spielte, ob mein Unfall als Arbeitsunfall anerkannt würde oder nicht. Die finanziellen Konsequenzen seien überaus weittragend, wie mir mein Zimmerkollege versi­cherte. Sei es nämlich ein anerkannter Arbeitsunfall gewesen, stünde mir zusätzlich zu meiner Pension, denn die würde ich ja zweifellos aufgrund meiner Arbeitsunfähigkeit zugesprochen bekommen, eine Unfallrente zu. Außerdem würde die Unfallversicherung für alle Hilfsmittel, die ich nach der Rehabilitation zur Pflege und für das alltägliche Leben benötigte, zur Gänze aufkommen. Ich sah ein, dass das natürlich einen riesigen Unterschied ausmachte, und erkannte wieder einmal die Fragwürdigkeit der so genannten höheren, der akademischen Bildung, wenn sie einem nicht solche lebensnotwendigen Tatsachen vermitteln kann und einem statt dessen den Kopf mit den überflüssigsten und nebensächlichsten Informationen vollstopft und einen sozusagen dumm sterben lässt, zu einem weltfremden Fachidioten ausbildet, der dann auf andere Leute hinunterschaut, weil sie keinen akademischen Titel oder doch wenigstens die Matura haben. Man konnte in der Tat oft gerade von diesen einfachen Leuten, und darum handelte es sich bei meinen Zimmerkollegen, entscheidende, nützliche Dinge lernen, die einem die ihrerseits weltfremden Lehrer und Professoren in der Schule und an der Universität nicht beibringen würden. Na ja, direkt bei der Arbeit war es nicht passiert, das konnte ich eigentlich nicht behaupten. Ich war ja eine Stiege hinuntergefallen und zu diesem Zeitpunkt nicht mit irgendeiner Arbeit beschäftigt gewesen. Das sei auch nicht unbedingt erforderlich, wurde ich aufgeklärt. Es genüge schon, wenn es auf dem direkten Weg von oder zu der Arbeit geschehen sei. Erleichtert stellte ich fest, dass wenigstens das der Fall war. Ich hatte meinen Freund aufgesucht, aber nicht aus einem privaten Anlass, sondern um bei ihm Entwürfe für Visitenkarten zu hinterlegen, die er einer mit ihm befreundeten Boutique-Besitzerin zeigen wollte. Ich nahm gerade an einem Umschulungsprojekt teil und war dabei, mich als Werbetexter und Marketing-Berater zu etablieren, und Wolfram hatte mir auf diese Weise einen Auftrag vermitteln wollen. Der Besuch bei ihm konnte also, genau genommen, als Geschäftstermin be­trachtet werden, und das würde ich auch dem Versicherungsagenten gegenüber geltend machen.
Tatsächlich wurde ich bereits am nächsten Tag, als ich wieder einmal völlig erschöpft von der Physiotherapie in mein Zimmer zurückkehren sollte und mich vor dem Mittagessen noch ein wenig ausruhen wollte, von diesem Versicherungsmann gewis­sermaßen überfallen und sozusagen einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen. Ob es wahr sei, dass ich bei meinem Freund ein Medikament für eine Freundin abgeholt und ihn aus diesem Grunde aufgesucht habe, wollte er von mir wissen. Es war mir unerklärlich, wie er von diesem Fläschchen mit einer homöopa­thischen Medizin erfahren haben konnte, das ich in der Tat bei dieser Gelegenheit mitgenommen und dummerweise gerade in dem Augenblick in die Manteltasche gesteckt hatte, als ich auf der Treppe gestolpert war. Ich konnte diese Frage nur bestäti­gen, versicherte aber, das habe sich nur zufällig so ergeben, weil mich diese Freundin gerade am gleichen Abend besucht und sich so einen Weg erspart hätte. Der Hauptzweck meines Besuches sei jedoch die Hinterlegung der Visitenkarten gewe­sen, es sei wohl nicht verboten, nebenbei jemandem eine pri­vate Gefälligkeit zu erweisen. Die Visitenkarten seien mittler­weile der Boutique-Inhaberin übergeben worden, der Termin genau in meinem Terminkalender vermerkt, das könne jederzeit nachgeprüft werden. Glücklicherweise wurde ich nach einer halben Stunde, während der ich jedes kleinste Detail der Umstände zu schildern hatte, von einem Oberarzt erlöst, der meine Erschöpfung bemerkte und mir sofortige Bettruhe verordnete. Dem eifrigen Herrn von der Versicherung blieb daraufhin nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden und mich zum Mittagessen zu entlassen, das die Schwestern unterdessen für mich auf ihre wie immer fürsorgliche Weise warm gestellt hatten. Mir war allerdings der Appetit beinahe vergangen, da mich diese Befragung, die mir wie ein Verhör erscheinen musste, ziem­lich aufgeregt hatte. Ohne mich offen zu beschuldigen, hatte man mich durch die Art der Fragestellung doch wie einen poten­tiellen Versicherungsbetrüger behandelt. Ich wusste nun zwar, dass es um viel Geld ging, das die Versicherung selbstverständ­lich nur bei eindeutigem Rechtsanspruch zahlen würde, doch der bloße Gedanke, ich könnte den Unfall zu meinem finanziel­len Vorteil gewissermaßen inszeniert haben, erschien mir doch zu absurd, als eine ungeheuerliche Zumutung. Ich wusste, die Sache war noch nicht ausgestanden, man würde mich wenig­stens noch ein weiteres Mal befragen, ehe man eine Entscheidung fällte. Da ich ein reines Gewissen hatte, konnte ich dem aber wohl mit Ruhe entgegensehen, wie ich dachte. Ich hatte bisher immer das bekommen, was mir zustand, und ich würde dafür sorgen, dass das auch so bliebe. Mein Leben würde ohnehin schwer genug für mich werden, ich wollte mir nicht auch noch Sorgen um das Geld machen müssen.


War es wirklich unmöglich, dass ich jemals wieder arbeiten, mir selbst den Lebensunterhalt verdienen konnte, und würde ich tatsächlich für den Rest meines Lebens dem Staat auf der Tasche liegen, wie man sagt? Stephen Hawking kam mir in den Sinn, der geniale englische Physiker, der unwiderruflich von einer heimtückischen Krankheit an den Rollstuhl gefesselt war und keinen Finger rühren, ja nicht einmal ohne technische Hilfsmittel sprechen konnte. Sogar er konnte sich noch nützlich machen, mit seinen Geisteskräften die Materie bezwingen und so ein doch in gewisser Hinsicht sinnvolles Leben führen, dachte ich, doch im gleichen Augenblick erschien es mir als Größenwahn, mich mit diesem Genie zu vergleichen, ich durfte mir keine übertriebenen Hoffnungen machen, andererseits wollte ich mich aber auch nicht mit meiner Nutzlosigkeit und Hilflosigkeit abfinden und vorzeitig resignieren. Ich würde einfach mein Bestes geben und dann sehen, ob das genug war. War es das nicht, so hatte ich mir wenigstens nichts vorzuwerfen und brauchte mir auch von keinem anderen etwas vorwerfen zu lassen. Jedenfalls wollte ich nicht bis an mein Ende der Allgemeinheit zur Last fallen und eine völlig nutzlose und sinn­lose Existenz führen. Was aber würde ich noch tun können? Meine Karriere als Marketing-Berater war zu Ende, bevor sie noch richtig begonnen hatte, denn dafür musste man jung, dy­namisch und vor allem mobil sein. Als Werbetexter und Graphiker könnte ich in einem Büro vor einem PC sitzen, wenn ich wenigstens Tasten drücken konnte. Auch als Übersetzer könnte ich wieder arbeiten, das müsste sich sogar auch von zu Hause machen lassen, und natürlich würde ich auch Nachhilfe geben, dazu brauchte ich überhaupt nur zu sprechen. Für einen Kopfarbeiter und „Schreibtischtäter“ wie mich musste es doch genügend Möglichkeiten geben, mich irgendwie sinnvoll zu be­tätigen und nicht völlig ins soziale Abseits abzudriften.


Die Chance, mich nützlich zu machen, kam tatsächlich viel schneller, als ich es erwartet hatte. Da die meisten der Ärzte und Schwestern bereits wussten, dass ich früher als Übersetzer und Sprachlehrer gearbeitet hatte und außer Englisch auch Spanisch sprach, erzählten sie mir von einer Patientin aus Südamerika, die in den nächsten Tagen erwartet wurde. Da dort ja hauptsächlich Spanisch gesprochen wurde, fragten sie mich, ob ich ihnen vielleicht ein bisschen helfen würde, wenn es Probleme mit der Verständigung gebe. Und ob ich das wollte! Endlich eine Gelegenheit, etwas Vernünftiges zu tun und gleichzeitig meine Dankbarkeit für die ausgezeichnete Betreuung zeigen zu können. Ich brannte richtiggehend darauf, die geheimnisvolle Südamerikanerin kennenzulernen und freute mich schon auf diese Begegnung. Ich ließ mir gleich mein Wörterbuch bringen, um mich gezielt vorzubereiten, indem ich einen Freund eine Wortliste mit speziellem Krankenhaus-Vokabular herausschreiben ließ. Weiters diktierte ich ihm einige Phrasen, die sowohl für Ärzte und Schwestern als auch für die Patientin von Nutzen sein konnten, und ließ das Ganze verviel­fältigen. Damit waren wir fürs Erste ganz gut gerüstet und brauchten nur noch auf den Gast aus Südamerika zu warten. Einige Tage darauf, nach dem Abendessen, führte eine Schwester eine Frau ins Zimmer, die durch ihr exotisches Aussehen sofort als die erwartete Patientin zu erkennen war. Ihre braune Haut, die indianisch geschnittenen Gesichtszüge und ihr blauschwarzes, langes Haar verrieten gleich ihre Herkunft. Sie war eher klein und schlank, mochte wohl etwas über 30 sein und machte einen völlig verzweifelten und verängstigten Eindruck, ihre Augen waren voller Tränen.
„? Buenas tardes, Señora, como estas?“
Als ob ich einen Lichtschalter angeknipst hätte, leuchtete ihr Gesicht plötzlich auf, ihre Augen strahlten, und sie trat an mein Bett. 
„? Hablas tu español, de verdad?“ -
„Un poco, yo soy el traductor.“
Sofort hatte sich zwischen uns ein Gespräch entwickelt, und sie erzählte mir, dass sie aus Argentinien kam, an einem Hirntumor litt und sich hier vom Primar, der anscheinend auf die­sem Gebiet eine Kapazität von Weltruf war, nach einer völlig neuen Methode operieren lassen wollte. Sie hieß Monica, war 35, verheiratet, und hatte vier Kinder. Der Tumor war zwar wahrscheinlich noch nicht sehr groß und nicht bösartig, doch litt sie ständig unter furchtbaren Kopfschmerzen, Übelkeit und Sehstörungen. Dazu kam noch, dass sie sich hier sehr einsam fühlte, niemanden verstehen konnte und auch von niemandem verstanden wurde. Daher hatte sie sich trotz der enormen Kosten stundenlang nur ans Telefon geklammert und mit ihrer Familie gesprochen, die in einer Stadt nahe der paraguayischen Grenze lebte, nicht weit von den berühmten Iguacu-Fällen. Ich gab ihr nun die vorbereitete Wortliste und ergänzte sie noch um die Phrasen, die sie am dringendsten benötigte, um sich mit dem Pflegepersonal zu verständigen. Ich konnte sehen, wie erleichtert sie war, endlich ihre Isolation durchbrechen zu können, und wie sie sich allmählich beruhigte und entspannte. Ich erzählte ihr von meinem Unfall und seinen Folgen, meiner Therapie und meinen Hoffnungen auf Genesung. Sie vertraute mir an, sie sei sehr religiös, natürlich streng katholisch und gehe regelmäßig zur Kirche. Sie habe unentwegt voller Gottvertrauen um ihre Heilung gebetet und schließlich den Weg hierher gefun­den, und sie versprach, auch für meine Heilung zu beten. Obwohl ich selbst nicht gerade religiös bin und eher mit dem Schicksal haderte, warum mich mein Schutzengel nicht besser beschützt habe, war ich doch gerührt. Monica erschien mir wie ein großes Kind, voll naiven Glaubens und Vertrauens und mit überschwänglichen Gefühlen, wie sie wohl für Menschen aus Lateinamerika typisch sind, und ich beneidete sie in gewis­ser Hinsicht darum. Vielleicht wäre das Leben mit einem so star­ken Glauben leichter zu ertragen, sagte ich mir, aber als „zivilisierter“ Mitteleuropäer und „Taufscheinchrist“ hatte ich mich eben daran gewöhnt, mich hauptsächlich auf meinen Verstand zu verlassen, wenn auch dabei meine Gefühle manchmal zu kurz gekommen waren.


Monica besuchte mich nun regelmäßig, und bald waren wir gute Freunde geworden, die einander ihre Ängste und Sorgen an­vertrauten und Mut machten. Sie wurde auf das Genaueste mit allen möglichen Geräten untersucht und durchleuchtet, bevor man die Operation mit dem Gamma-Knife vorbereitete, das an­geblich noch viel präziser und wirksamer schneiden kann als ein Laserstrahl. In Wahrheit wird es nur anhand der Untersuchungen programmiert und führt die eigentliche Operation dann computergesteuert und vollautomatisch aus. Der Kopf des Patienten muss dabei buchstäblich am Operationstisch festgeschraubt werden, damit es zu keinem Verwackeln kommen kann. Ich versicherte ihr immer wieder, sie sei hier in den besten Händen und es würde alles gut gehen, aber ihre Schmerzen trübten doch oft ihr im Grunde fröhliches und temperamentvolles Naturell, und auch ich machte mir insgeheim Sorgen um den Erfolg der Operation, die ja schließlich keine Kleinigkeit war und über Leben und Tod entscheiden konnte. Nach zwei weiteren Tagen war es schließlich so weit. Ich wusste, sie hatte sich mit Gebeten auf diese entscheidende Stunde vorbereitet, und auch ich war versucht, um ihre Heilung zu beten, aber zu wem? Zu einem höheren, allmächtigen Wesen, das trotz seiner angeblichen Liebe und Gerechtigkeit überhaupt diese furchtbare Krankheit und auch meinen Unfall zugelassen hatte, das Kriege, Hungersnöte und Naturkatastrophen zuließ? Da fällt einem das Glauben schon schwer, dachte ich. Warum passierte so etwas nicht Kriegsverbrechern, Kinderschändern und Drogenhändlern? Aber es hatte wohl keinen Sinn, sich mit solchen bitteren Gedanken zu belasten, ich musste weiterhin positiv denken und wenigstens an mich selbst glauben, an meinen Willen zur Gesundung.
„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“ war vielleicht kein schlechter Rat, es brachte nichts, die Schuld anderen zu geben und sich auf andere zu verlassen. Ich würde natürlich Hilfe benötigen, aber die treibende Kraft, zumindest aus dem Kopf, musste von mir ausgehen. Auf diese Weise hatte ich schon in der Vergangenheit die meisten meiner Probleme und Krisen gemeistert, und so sollte es auch jetzt bleiben.


Verbissen trainierte ich nicht nur im Turnsaal, sondern auch im Krankenzimmer, da ich mir die Sandsäckchen mitgeben hatte lassen, um nur ja keine Zeit mit müßigem Herumsitzen zu ver­schwenden. Auch die Schreibübungen betrieb ich mit einem Eifer, wie ich ihn seit meinem ersten Jahr in der Volksschule nicht mehr gekannt hatte, und die Ergebnisse ließen sich schließlich auch mit meinen damaligen vergleichen: Brav und fein säuberlich malte ich Buchstaben um Buchstaben, Wort für Wort aufs Papier, wobei es mir sogar gelang, die Zeilen und die Höhe der Zeichen genau einzuhalten. Es war eine gut leserliche Schrift, aber es war nicht wirklich meine, wie ich sie gewohnt gewesen war. Es fehlte der Schwung, die aggressive Dynamik, die lässige Schlampigkeit, die aus meinem hektischen Lebensstil heraus entstanden war. Ich hatte wieder die Schrift des sechsjährigen Kindes, das von seiner Lehrerin immer für sein sauberes Schriftbild gelobt worden war, aber das belu­stigte mich nur, damit konnte ich leben, wenn ich mich nur auf anderen Gebieten vom hilflosen Kind zum selbständigen Erwachsenen zurückentwickeln konnte. Es gab so viel neu zu erlernen, was für jeden anderen alltäglich und selbstverständlich war, die banalsten Tätigkeiten, die man ohne zu denken aus­führte und die doch für ein angenehmes oder doch wenigstens erträgliches Leben unerlässlich waren. Ich fragte mich nur, ob dazu mein Wille ausreichen würde, ob der Geist tatsächlich die Materie beherrschen konnte oder ob er der beweglichste Teil an mir bleiben würde, gefangen in einem unnützen und ungeschickten Körper. Mens sana in corpore sano, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, dachte ich. Wie viele kranke Geister stecken in kerngesunden, wohlproportionierten Körpern mit durchgestylten Hüllen, die nicht mehr Tempel der Seele sind, sondern dem Kult der Schönheit und Fitness geweiht werden, und wie lange konnte ein gesunder Geist seine Gesundheit in einem gelähmten, verkrüppelten Körper bewahren?


Aus Erfahrung wusste ich, wie belastbar und robust meine Psyche war. Intrigen und Verleumdungen bei der Arbeit, kaputte Beziehungen mit unerfreulichem Ende, längere Phasen der Einsamkeit und Kursstürze an den Börsen, alles Erfahrungen, die andere, labilere Charaktere an den Rande des Nervenzusammenbruchs oder auf die Couch eines Psychiaters treiben würden, hatten mich nie ernsthaft erschüttern können. Ich hatte alles verdaut, hatte mich nicht entmutigen lassen und mich immer wieder zu neuen Herausforderungen aufgerappelt. Was einen nicht umbringt, macht einen nur noch härter, lautete die Devise.
Würde es auch dieses Mal so sein, würde ich mich auch von diesem Schicksalsschlag, dem bisher härtesten meines Lebens, ebenso erholen wie von allen anderen davor? Ich bin kein „Untergeher“, sagte ich mir, sondern ein „Überlebens-Künstler“, das hatte ich mir und allen anderen schon oft genug bewiesen, und ich würde es auch jetzt wieder beweisen. Wie oft hätte ich einen „guten Grund“ gehabt, mich mit Alkohol oder Psychopharmaka „aufzumuntern“ oder zu betäu­ben, oder gar einen „Grund“, mir das Leben zu nehmen, wie es immer wieder aus so banalen Anlässen wie einem leichten Blechschaden oder einem Führerscheinentzug nach einem aus Leichtsinn verschuldeten Unfall vorkommt, da das vergötterte rol­lende Statussymbol tatsächlich zum Lebensinhalt geworden ist und nun für den Betroffenen eine Welt zusammenbricht. Der Wille zum Sinn, wie der Logotherapeut Viktor Frankl es nannte, ist gerade in unserer anscheinend so rationalen Wohlstandsgesellschaft immer mehr Menschen abhandengekommen, die Selbstmordstatistiken, bei denen Österreich stets in den „Medaillenrängen“ aufscheint, belegen dies eindrucks­voll. Wie anders dagegen der Lebenswille von Menschen, die selbst trotz widrigster Umstände einen Grund zum Weiterkämpfen finden, doch wenn man von jemandem ge­braucht wird und auch noch einen unerschütterlichen Glauben hat, ist es sicherlich einfacher.


Als Monica nach der Operation aus der Narkose erwachte, ließ ich mich in ihr Zimmer bringen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Sie hatte zwar noch leichte Kopfschmerzen, doch die übrigen Beschwerden waren verschwunden. Auch die postoperativen Aufnahmen bestätigten den komplikationslosen und anscheinend erfolgreichen Verlauf des Eingriffs. Es sah so aus, als sei ihr Glaube, Optimismus und auch der enorme fi­nanzielle Einsatz gerechtfertigt gewesen, als habe sich die weite Reise nach Österreich wirklich gelohnt. Sie sagte, sie sei nun ein zweites Mal geboren, habe ein neues Leben geschenkt bekommen und danke Gott und allen Menschen, die dazu bei­getragen hatten. Als der Primar, der die Operation geleitet  hatte, bei der Visite in ihr Zimmer kam, schaute sie ehrfürchtig und dankbar zu ihm auf und flüsterte „ Manos de Dios !“ (Die Hände Gottes). Der Primar, der sie offenbar dank seiner Lateinkenntnisse verstanden hatte, verzog sein Gesicht und sagte zu den Ärzten und Krankenschwestern, die ihm wie eine Prozession folgten, er lege auf solch einen Titel keinen Wert, er glaube nur an sein eigenes Wissen und seine Geschicklichkeit. Natürlich wollte ich diese Äußerungen nicht übersetzen, son­dern ersetzte sie durch einige nichtssagende Floskeln. Ich musste auch an die ungeheuren Summen denken, die dieser „Gott in Weiß“ an dieser und anderen Operationen verdient hatte und fragte ihn, „Würde Ihnen manos de oro (goldene Hände) besser gefallen?“, worauf er mir mit einem schiefen Lächeln zunickte und das Krankenzimmer verließ. Monica musste noch einige Tage zur Beobachtung bleiben, die winzige Wunde, die von der Operation stammte, erforderte jedoch keine weitere Pflege, die einen längeren Aufenthalt an der Klinik not­wendig gemacht hätte. Sie wollte anschließend noch ihren Aufenthalt in Österreich für eine kurze Besichtigung von Wien und Salzburg nützen und dann nach Rom reisen, von wo sie einen direkten Flug nach Buenos Aires hätte. Als es Zeit für den Abschied wurde, umarmte sie mich stürmisch und versprach, mir gleich nach ihrer Heimkehr zu schreiben. Tatsächlich stehen wir noch immer in Kontakt und schreiben einander etwa einmal pro Monat, was sich auf mein Spanisch positiv ausgewirkt hat. Es geht ihr noch immer gut, und alle bisherigen Nachuntersuchungen sprechen für eine vollständige Heilung, die für sie und ihre Familie ein wahres Wunder bedeutet.


Verständlicherweise wagte ich es nicht, auch für mich eine hun­dertprozentige Genesung zu erhoffen, ich bin zu sehr Realist, um an Wunder zu glauben, und der Grad meiner Verletzung würde in der Tat ein Wunder erfordern. Mein Leben wird für mich nie mehr so wie vor meinem Unfall sein, das ist mir klar, aber wie weit werde ich mich wieder an den Normalzustand heranarbeiten können, was ist unter Ausschöpfung aller Mittel der Schulmedizin, alternativer Heilmethoden und meines persönlichen Einsatzes überhaupt möglich und denkbar? Was wird mir der Aufenthalt in dem Rehabilitationszentrum bringen, werde ich dort wirklich so große Fortschritte machen, wie sie mir alle versprechen? Diese und ähnliche Fragen gingen mir während der letzten Tage an der Klinik immer wieder durch den Kopf, als ich mich auf meine Verlegung vorbereitete.
 
 
Schließlich war es soweit; nachdem ich mich noch bei allen Ärzten, Schwestern, Pflegern und Therapeutinnen bedankt und verabschiedet hatte, wurde ich von zwei Sanitätern des Roten Kreuzes abgeholt, auf einer Tragbahre, so wie ich gekommen war, und in einem Ambulanzwagen in das Rehabilitationszentrum gefahren, wo man mich schon erwartete. Wie oft hatte ich an diesem Ort meinen Vater besucht, selbst halb gelähmt vor Entsetzen und Mitleid angesichts des überall sichtbaren Elends, nicht ahnend, dass ich einmal selbst als Patient hier landen würde, die Duplizität der Fälle war einfach zu grotesk. Man hatte inzwischen die ganze Anlage großzügig renoviert, ausgebaut, um ein völlig neues Gebäude erweitert; Marmorböden, Wandmosaike, Springbrunnen und eine kühne Dachkonstruktion schufen eine ästhetisch ansprechende, lichtdurchflutete Weiträumigkeit, die aus der Rückenlage auf der Tragbahre noch beeindruckender wirkte. Das also würde nun für längere Zeit, wahrscheinlich mindestens ein halbes Jahr, mein neues Zuhause sein. Erinnerungen an meine Zeit beim Bundesheer stiegen auf, acht Monate meines Lebens, die für immer sinnlos vergeudet waren, acht Monate, die mich aus meinem mir so heiligen Privatleben herausgerissen und in die tiefste Provinz verbannt hatten, weg von meinen Freunden, meinen Büchern, meiner Musik, mitten unter Leute, mit denen ich nichts gemeinsam hatte als die gleiche hässliche Uniform und mit denen ich auch sonst nichts zu tun haben wollte. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich durch meinen Unfall nicht nur weitgehend arbeitsunfähig, sondern auch im höchsten Grad wehruntauglich geworden war, selbst für das allerletzte Aufgebot, den so genannten Volkssturm, nicht mehr zu gebrauchen war, was wahrscheinlich noch den positivsten Aspekt meines Zustandes darstellte und mich irgendwie belustigte. Nun war meine Ausbildung an der Waffe endgültig und auch für den dümmsten Militaristen offensichtlich zur reinen Zeit- und Geldverschwendung degradiert.


Ich wurde in einen geräumigen Lift geschoben, der uns in die zweite Etage brachte. Hier lag die Station der Querschnittgelähmten, also der am schwersten Behinderten in der Patienten-Hierarchie. Die Stationsschwester nahm mich in Empfang, überprüfte meine Personalien und ließ mich dann von zwei Pflegern in mein Zimmer bringen. Ich sah, dass es nur drei Betten gab, was einen Fortschritt zu dem Sechsbettzimmer in der Klinik und natürlich auch zum Schlafsaal im alten Trakt darstellte, in dem mein Vater untergebracht gewesen war. Ich wurde in das Bett am Fenster gelegt, im mittleren Bett lag ein älterer Mann im dritten Bett lag ein junger Mann, der etwa sechzehn sein mochte. Er hätte am Tag meines Eintreffens entlassen werden sollen, hatte sich aber gerade am vorletzten Tag einen Dekubitus, eine offene Stelle am Gesäß zugezogen, da er viel zu lange im Rollstuhl sitzen geblieben war, noch dazu auf einer Falte seines Sitzkissens. So bekam er einige Wochen Bettruhe verordnet, noch dazu in Bauchlage, was die Sache noch unangenehmer machte. Ich nahm mir vor, nie ein derartiges Risiko einzugehen und dieses abschreckende Beispiel immer im Bewusstsein zu behalten. Ich würde also strikt darauf achten, dass ich immer richtig und nie zu lange im Rollstuhl saß. Immerhin hatte ich den Vorteil, am ganzen Körper alles ziemlich deutlich zu spüren und sollte so wohl rechtzeitig auf irgendwelche Beschwerden reagieren können. Meine Lage war so schon unangenehm genug, ich durfte sie nicht noch durch Fahrlässigkeit zusätzlich verschlimmern. Ich bemerkte, dass gegenüber den Betten ein Fernsehgerät montiert war, mit dem man anscheinend mehrere Kabelprogramme empfangen konnte; es würde mir also nicht langweilig werden, wenn es nichts anderes zu tun gab.
Der Mann neben mir, der weit über siebzig, wenn nicht gar achtzig sein musste, begann mich gleich auszufragen, nicht behutsam und taktvoll, sondern so, als habe er ein Recht dazu, schon allein auf Grund unseres Altersunterschiedes, und als sei er es gewohnt, über andere Leute zu verfügen, sich über sie und ihre Gefühle hinwegzusetzen. Auch die Narbe an seiner linken Wange, wahrscheinlich von einer Mensur, ein so genannter „Schmiss“, der mich in ihm einen ehemaligen Burschenschaftler in einer schlagenden Verbindung vermuten ließ, machten ihn mir nicht sympathischer. Als er einen Pfleger rief und sich von ihm eine Kanne Tee bringen ließ, wurde er von diesem als Herr Oberst tituliert, worauf mir plötzlich alles klar wurde: Da hatte ich ja einen reizenden Zimmergenossen gefunden, der selbst in seinem erzwungenen Ruhestand noch kommandieren wollte, obwohl er doch schon längst nichts Respekteinflößendes mehr an sich hatte und nichts als ein hilfloses, unbewegliches Wrack war. Ich jedenfalls würde nicht vor ihm salutieren und stramm stehen, selbst wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre, dachte ich.


Auf dem Bildschirm erschien eine Gruppe von schwarzen Musikern, die eine interessante Mischung aus Soul, Jazz und Reggae spielten, und ich stellte mir vor, wie ich mich früher zu dieser Musik bewegt hätte, wie ich den Rhythmus mit meinem ganzen Körper aufgenommen hätte, doch mir war klar, dass diese Klänge meinem Nachbarn nicht gefallen würden. Zum Glück konnte er die Fernbedienung ebenso wenig erreichen wie ich, dachte ich schadenfroh, er würde sie also wohl oder übel aushalten müssen. Ich war jedenfalls überhaupt nicht überrascht, dass er sich sogleich lautstark und empört über „diese Urwaldmusik von diesen schwarzen Affen“ ausließ und noch einige andere rassistische Bemerkungen folgen ließ, um dann nahtlos auf das Ausländerproblem in Österreich überzugehen. Ich bekam die aus Wahlreden Haiders sattsam bekannten Parolen zu hören, die mich gewöhnlich maßlos ärgerten und sofort zum Widerspruch reizten, doch hielt ich mich zurück, wollte diesen Mann keiner Antwort würdigen, die er anscheinend auch gar nicht wirklich erwartete, da er mittlerweile richtig in Schwung gekommen war und seiner Empörung und seinem Hass völlig freien Lauf ließ. Die „nichtsnutzigen, faulen und disziplinlosen jungen Leute, die nichts als Rauschgift und Schweinereien im Kopf haben“ und „das arbeitsscheue Gesindel, das nur dem ehrlichen Steuerzahler auf der Tasche liegt“ waren konsequenterweise die nächsten Opfer seiner Hasstiraden. Schließlich beklagte er sich noch, die meisten Ärzte seien ja doch nur „unfähige Pfuscher, vor denen man Angst haben muss“ und die Schwestern in der Regel „faul und schlampig“.
Je länger ich zuhörte, desto faszinierender fand ich den Redeschwall des alten Mannes. War er schon immer so feindselig und verbittert gewesen, oder hatte ihn erst seine Behinderung so gemacht, und würde ich auch einmal so werden wie er? Ich konnte beim besten Willen für diesen Mann, der ja in gewisser Hinsicht mein Leidensgenosse war, nicht das Mitgefühl und Verständnis aufbringen, das ich normalerweise stets für Kranke und Behinderte empfunden hatte. Ich konnte mir nämlich nur zu gut vorstellen, wie der „Herr Oberst“ seine Untergebenen schika­niert und gedemütigt haben musste und dass seine menschen­verachtende Arroganz vielleicht vielen das Leben zur Hölle ge­macht hatte. Ich musste auch daran denken, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit im Krieg Menschen eigenhändig getötet oder wenigstens in den Tod geschickt hatte, ohne deswegen Reue zu empfinden, da er ja nur wie manch anderer „seine Pflicht“ getan hatte. Ich teilte zwar nicht die Ansicht, dass alle Soldaten Mörder seien, doch hielt ich jeden, der freiwillig eine Uniform trug und eine militärische Karriere anstrebte, zumindest für einen fragwürdigen Charakter, der seinen Teil zum Unglück dieser Welt beitrug. Es war zu erwarten, dass ich früher oder später meine Abneigung gegenüber meinem Bettnachbarn nicht mehr verbergen können würde und es zu einem offenen Konflikt kommen musste, da es mir im allgemeinen schwer fiel, meine Gefühle zu verheimlichen. Das konnte ja heiter werden, wenn mein Aufenthalt hier schon so begann. Ich hatte ja eigentlich ganz andere Sorgen und sicherlich nicht die Kraft und die Nerven, mich auf einen lächerlichen Privatkrieg einzulassen; vielmehr musste ich mich mit aller Entschlossenheit voll auf meine Therapie und meine Rehabilitation konzentrieren und alles an­dere ignorieren, wollte ich jemals wieder ein einigermaßen normales Leben führen. Zum Glück stellte sich bereits am folgenden Tag heraus, dass der Herr Oberst nur zu einer kurzfristigen urologischen Routineuntersuchung, dem sogenannten Uro-Check, wie das im Hausjargon hieß, gekommen war und schon zu Mittag wieder von der Rettung abgeholt wurde. Sein Platz wurde von einem etwa fünfzehnjährigen Burschen eingenom­men, der sich den ganzen Tag lang über die Kopfhörer eines tragbaren CD-Players mit voller Lautstärke Techno-Rhythmen ins Gehirn hämmern ließ. Da ich mittlerweile meinen eigenen Walkman (wenn auch mit großer Mühe) bedienen konnte, störte mich das nicht weiter; ich war schon froh, in keine Konflikte verwickelt zu werden und für mich bleiben zu können.


Schließlich hatte der Oberarzt, offenbar ein recht freundlicher, wenn auch etwas nervöser und hektischer Mann, Zeit gefun­den, an mir die Aufnahmeuntersuchung durchzuführen. Wie ich bald feststellte, war er Kettenraucher und ließ keine Gelegenheit ungenützt, seinen Organismus mit Nikotin zu vergiften. Auf allen Gängen waren an den Wänden Aschenbecher montiert, die zumeist fast überquollen, weil das Reinigungspersonal mit dem Entleeren kaum nachkam. In seinem Arbeitszimmer war die Luft stets „zum Schneiden“, wie man sagt, weil es ständig von dichten Rauchschwaden erfüllt war, und der ekelhafte Gestank von kaltem Rauch hatte sich in den Vorhängen festgesetzt. Als später, nach einigen Monaten, ein rauchender Zimmergenosse nach einer Operation bettlägerig geworden war, erhielt er - zu meiner Empörung, wenn auch nicht Überraschung - Raucherlaubnis im Bett und somit im Krankenzimmer, das ich als Nichtraucher mit ihm zu teilen hatte. Dieser für seine Suchtkollegen so verständnisvolle Mediziner schien angesichts des Grades meiner Verletzung über meinen relativ guten Zustand erstaunt zu sein, wollte sich aber keine Prognosen über meine weiteren Genesungschancen entlocken lassen. Es sei noch viel zu früh, etwas Konkretes zu sagen, doch habe es bei inkompletten Lähmungen wie in meinem Falle schon beachtliche Fortschritte gegeben, wenn auch oft erst nach langer Zeit. Er verordnete mir eine Unzahl von Medikamenten, darunter Antidepressiva, die anscheinend in dieser Phase beinahe routinemäßig verschrie­ben werden, von denen mir jedoch mein Hausarzt, der eher auf Homöopathie setzte, entschieden abriet. Ferner Antibiotika gegen Harnwegsinfekte und Abführmittel, da ich we­gen meiner Mastdarmlähmung unter Verstopfung litt.
„Am besten nehmen Sie Früchtewürfel, Dulcolax-Zäpfchen und Abführ-Dragees, braune Waldheim.“ - „Waldheim? Und noch dazu braun? Soll das ein Witz sein?“ -
„Nein, die heißen wirklich so. Es gibt auch grüne, aber die werden für Sie wahrscheinlich zu schwach sein.“ -
„Na gut. Sind Sie sicher, dass die keine Nebenwirkungen haben, Gedächtnisverlust zum Beispiel?“
 „Wie meinen Sie? ... ach so, ich sehe schon, Sie gehören zu der ganz boshaften Sorte, da muss man ja höllisch aufpassen!“
Er drohte mir scherzhaft mit dem Zeigefinger und zwinkerte mir zu. Dabei hatte ich nicht einmal gesagt, dass ich die meisten Politiker nicht nur zum Kotzen fand, sondern dass schon allein das tägliche Anhören von Wahlreden und Interviews sogar meine Darmträgheit beheben hätte können.
„Mit der Physiotherapie werden wir eher vorsichtig anfangen, damit wir Sie nicht zu sehr belasten. In den ersten Tagen wird die Therapeutin aufs Zimmer kommen und Sie nur einmal im Bett durchbewegen. Dann werden wir einen Therapieplan festlegen und Sie mobilisieren.“-
„Mobilisieren?“ -
„Sie bekommen einen Rollstuhl, werden kurz herausgesetzt, damit sich der Kreislauf langsam umstellen kann, und lernen mit dem Rollstuhl zu fahren. Ich werde Ihnen gleich unsere Ergo-Therapeutin heraufschicken, damit sie Ihnen ein passendes Wagerl aussucht. Sie wollen doch nicht ewig im Bett liegen bleiben, oder?“


Meine Größe von 185 cm erwies sich als Problem, da die meisten Rollstühle für kleinere Patienten gebaut waren und auch die Konstruktion der restlichen Fahrzeuge einem Anfänger, noch dazu einem mit meiner schweren Behinderung, kaum zuzumuten war. Glücklicherweise war die Ergo-Therapeutin auch eine äußerst geschickte und einfallsreiche Bastlerin, die das Vorurteil, alle Frauen hätten ein gestörtes Verhältnis zur Technik, eindrucksvoll widerlegen konnte. Jedenfalls gelang es ihr wirklich, ein einigermaßen brauchbares Gefährt für mich aufzutreiben und es auf meine Bedürfnisse zurechtzubauen. Ich war ja schon in der Universitätsklinik hin und wieder gesessen, aber noch nie in einem Rollstuhl. Natürlich war mein Gleichgewichtssinn noch gestört, darum wurde ich mit einem Sicherheitsgurt quer über die Brust an der Lehne fixiert. Selbst konnte ich meine Sitzposition damals noch nicht verändern, und auch die erfahrenen Pfleger und Therapeutinnen, die mich in den Rollstuhl setzten, konnten mich nur schwer in eine akzeptable Sitzhaltung bringen. Wahrscheinlich kann jeder nur selbst spüren, welche Lage für ihn die angenehmste ist, kein Mensch kann sich in das Körpergefühl eines anderen hineindenken, schon gar nicht den Zustand eines Querschnittgelähmten vorstellen. Ich konnte mich zwar nicht in einem Spiegel sehen, doch die Kommentare und das Kopfschütteln der altgedienten, langjähri­gen Rollstuhlfahrer machten mir klar, dass ich ein Bild des Jammers bieten musste, wie ich da schief und krumm in meinem Rollstuhl hing. Erwartungsgemäß war auch die Fortbewegung anfangs äußerst mühsam. Erstens war meine Armmuskulatur noch nicht ausreichend trainiert und mein linker Arm noch schwächer als der rechte. Daher fiel es mir schwer, durch gleichmäßiges Antreiben eine gerade Linie zu halten, weshalb ich des Öfteren an die Seitenwände des Ganges stieß, in dem ich meine ersten Fahrversuche unternahm. Außerdem brachte meine schlechte Körperhaltung, die wahrscheinlich auf die damals noch ziemlich schwache Rückenmuskulatur zurückzuführen war, auch eine schlechte Kraftübertragung durch ungünstige Hebelwirkung mit sich. Später, als ich aufrechter und gerader saß, konnte ich mit geringerem Kraftaufwand ein höheres Tempo erzielen, was allerdings nicht viel heißen wollte, da ich immer einer der langsamsten Rollstuhlfahrer im ganzen Haus blieb. Da der Weg von meinem Zimmer bis in den Therapie-Pavillon ziemlich weit war, musste ich in den ersten Tagen von Schwestern dorthin geschoben werden, sonst wäre ich wahrscheinlich erst gegen Ende der Therapiezeit dort angekommen.


Die Physiotherapie an der Universitätsklinik war sehr intensiv gewesen, daher war ich anfangs etwas enttäuscht, weil ich nicht genauso stark oder noch stärker gefordert wurde als vorher und weil das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Patienten und Therapeutinnen ungünstiger war, als ich es erwartet hatte. Während ich an der Klinik immer eine Therapeutin, ja manchmal sogar zwei für mich allein gehabt hatte, musste ich nun oft meine Therapeutin noch mit mindestens einem Patienten teilen und mich unterdessen allein beschäftigen. Überhaupt war hier an­scheinend Eigeninitiative gefordert, doch je schwächer und ungeschickter man war, umso mehr Hilfe benötigte man auch, um durch intensiveres Training stärker und geschickter und damit selbständiger und unabhängig zu werden. Die meisten Geräte waren nämlich gerade für „Frischlinge“ wie mich entweder zu schwer oder nicht zu errei­chen. Man kann für diese unbefriedi­gende Situation auf keinen Fall die Therapeuten verantwortlich machen, die zweifellos in der zur Verfügung stehenden Zeit ihr Bestes geben und versuchen, ihre Aufmerksamkeit einigermaßen gerecht auf die vielen Patienten aufzuteilen, doch müssten wenigstens einige zusätzliche Planstellen geschaffen werden, um eine intensivere Betreuung zu gewährleisten. Leider scheint, wie fast überall, gerade für das Personal immer am wenigsten Geld vorhanden zu sein, während für luxuriöse Dekorationen und prestigeträchtige Technik viel eher Unsummen ausgegeben werden, die letztendlich den Betroffenen kaum oder gar nicht zugutekommen.
Die Ausstattung der Therapieräume unterschied sich nicht wesentlich von der in der Klinik: Gymnastikliegen mit verstellbaren Kopfteilen, Polster und Rollen zur individuellen Lagerung, Sprossenwände, ein Barren sowie diverse Gewichte, Sandsäckchen und Bälle. Außerdem gab es noch einen großen Vorraum mit Seilzugmaschinen, einem Stehbrett und einem Stehtisch. Noch vor der Physiotherapie war als allgemeines Pflichtprogramm eine Viertelstunde Atemgymnastik vorgesehen, zumeist im Freien, solange das Wetter es nur irgendwie zuließ. Obwohl sie allen Patienten verordnet worden war, fand sich selten mehr als ein Viertel von ihnen ein. Auch ich nahm nicht regelmäßig daran teil, da die meisten der Übungen für mich viel zu schwierig, das heißt, nicht nur äußerst anstrengend, sondern schlicht und einfach undurchführbar waren. So waren manche der geforderten Bewegungsabläufe nur von denen richtig zu bewältigen, die wenigstens noch einen voll funktionierenden Oberkörper und normal bewegliche Arme und Hände hatten. Alle Übungen, bei denen ich die Hände hinter den Rücken halten oder über den Kopf heben sollte, waren mit meinen blockierten Schultergelenken einfach nicht zu schaffen und daher ziemlich frustrierend.


Meine Therapeutin war etwas über dreißig und ziemlich sportlich. Sie schien recht nett zu sein, doch es brauchte einige Zeit, bis ich mich an ihre Trainingsmethoden und die neue Situation gewöhnte. Für mich bedeutete die Übersiedelung in das Rehabilitationszentrum, dass ich nicht mehr eine Ausnahmeerscheinung und Einzelfall, sondern nur mehr ein Querschnittgelähmter unter vielen war. Dementsprechend kam ich auch nicht mehr in den Genuss einer besonderen Aufmerksamkeit, sondern wurde einfach der Routinebehandlung unterzogen.
Auch die Schwestern und Pfleger schienen hier weniger Zeit zu haben, und ich musste oft relativ lang warten, bis jemand mir bei irgendeinem Problem zu Hilfe kam. Die Zimmerschwester, eine ziemlich energische, wenn auch wenigstens nicht völlig humorlose Person, teilte mir kurz und bündig mit, hier sei Selbständigkeit oberstes Gebot, die Patienten sollten in erster Linie lernen, wie man allein zurechtkomme. Damit war ich im Prinzip natürlich einverstanden, trotzdem hatte ich irgendwie das Gefühl, von einem Luxushotel in eine Kaserne übersiedelt zu sein. Ich hatte ja ohnehin den Ehrgeiz, möglichst viel selbst zu machen, doch stieß ich durch meine Schwäche und Ungeschicklichkeit ununterbrochen auf unüberwindliche Hindernisse, was mich immer wütender und verzweifelter machte. Ich konnte nicht einmal mein Zimmer ohne Hilfe verlassen oder betreten, da sich die Zimmertüren nicht wie die meisten anderen Türen im Haus automatisch öffneten und schlossen. Die Druckknöpfe vor und in dem Lift waren für mich etwas zu hoch, und wenn ich sie mit größter Mühe endlich gedrückt hatte, schlossen sich die Türen meistens schon, ehe ich den Rollstuhl in die richtige Position manövriert hatte. Ich konnte mir nichts aus meinem Nachtkästchen oder aus dem Wandschrank holen, da die Betten manchmal so eng nebeneinander standen, dass ich nicht nahe genug und im idealen Winkel an die Griffe herankam. Zuweilen wurde nämlich in unserem Dreibettzimmer noch kurzfristig ein vierter Patient untergebracht, was auf anderen Stationen mit gehfähigen Behinderten nicht so schlimm gewesen wäre, für Rollstuhlfahrer aber doch eine unzumutbare Belastung darstellte. Leider war auch der Kühlschrank überhaupt nicht behindertengerecht in die Wand versenkt, so dass die obersten und hinteren Bereiche nur von den Geschicktesten erreicht werden konnten. Auch der Esstisch war so konstruiert und aufgestellt, dass nie wir alle wirklich bequem unseren Platz erreichen konnten und wir uns dann zudem noch gegenseitig in die Quere kamen und störten. So gab es im ganzen Haus unzählige architektonische Dummheiten und Gedankenlosigkeiten, die sich bei einem neuen, speziell für Behinderte gedachten Gebäude leicht vermeiden hätten lassen. Wie ich später erfuhr, hatten sich die Bauherren bei der Planung über die Vorschläge und Einwände des mit den Problemen Schwerstbehinderter am besten vertrauten Pflegepersonals arrogant hinweggesetzt. Soll behindertengerechtes Bauen nicht zur oberflächlichen Alibihandlung verkommen, dann muss es sich an den Bedürfnissen und Schwierigkeiten der Schwächsten und Hilflosesten und nicht am Durchschnitt orientieren.


Zu meiner großen Enttäuschung gab es auch keine Luftmatratze für mich, da die wenigen im Haus vorhandenen bereits alle vergeben waren, und ich wurde nicht mehr alle zwei, sondern nur mehr alle vier Stunden neu gelagert. Da ich mich damals überhaupt nicht drehen und so meine Position so gut wie gar nicht verändern konnte, wurde der Druck durch mein eigenes Körpergewicht oft schon nach zwei Stunden ziemlich unangenehm. Auch die übliche routinemäßige Lagerungstechnik entsprach überhaupt nicht meiner Vorstellung von Bequemlichkeit. Erst nach und nach entwickelte ich selbst für mich eine angenehmere Lagerung, indem ich die Schwestern und Pfleger verschiedene Positionen ausprobieren ließ, worauf diese anfangs sehr skeptisch reagierten, dann aber doch meinen Wünschen nachkamen. Für die meisten der anderen Patienten, die einen großen Teil ihres Körpers nur mehr schwach oder gar nicht fühlen konnten, spielten derartige Dinge wohl keine große Rolle. Für mich war die Lösung dieses Problems allerdings entscheidend, und selbst in der etwas bequemeren Lage sehnte ich zumeist den Ablauf der Vierstundenfrist herbei und konnte den Blick kaum von der Wanduhr abwenden. Auch in dieser Hinsicht fühlte ich mich eher an den pünktlich durchorganisierten Tagesablauf in einer Kaserne erinnert, mir fehlten die Flexibilität und der Spielraum für individuelle Bedürfnisse. Mir wurde natürlich mit der Zeit klar, dass für das reibungslose Funktionieren einer solchen Einrichtung Pünktlichkeit und Disziplin nötig sind und dass das Pflegepersonal, das zweifellos eine körperlich äußerst anstrengende und psychisch belastende Arbeit für relativ wenig Geld leistet, oft überlastet und überfordert ist, da natürlich auch in diesem Bereich an Planstellen gespart wird. Außerdem entspannte sich die Stimmung mit der Zeit, als wir einander besser kennenlernten und sich allmählich gegenseitiger Respekt und Anerkennung für die Bemühungen der anderen Seite entwickelten. Ich freute mich, wenn eine der freundlicheren und lustigeren Schwestern Dienst hatte, und verschanzte mich einsilbig hinter meinem „Pokerface“, wenn eine der herrischen, sarkastischen „Hausdrachen“ das Zimmer betrat. Besonders eine der jüngeren Schwestern, zugegebenermaßen eine fachlich sehr kompetente Kraft und sogar unbestreitbar eine ziemlich attraktive Frau, verfügte über den Charme einer gut funktionierenden Tiefkühltruhe und war daher bei den Patienten allgemein als „Schwester Sonnenschein“ bekannt. Die Pfleger waren fast ausnahmslos größer als ich und hätten mit ihren Muskelpaketen auch als Bodybuilder oder Freistilringer durchgehen können, da ihre Oberarme zumeist stärker als meine Oberschenkel waren, an denen sich allerdings doch bereits Muskelschwund bemerkbar gemacht hatte. Wie ich später erfuhr, litten doch viele von ihnen trotz ihres beeindruckenden Körperbaus an Rückenschmerzen und Bandscheibenschäden, die zweifellos auf die langjährige Belastung durch das Heben und Lagern schwergewichtiger und unbeweglicher Patienten zurückzuführen waren. Es war sogar zu befürchten, dass der eine oder andere früher oder später diesen Beruf nicht mehr ausüben können oder im schlimmsten Fall sogar selbst als Patient hier landen würde. Überhaupt stellte der Transfer zwischen Bett und Rollstuhl einen Schwerpunkt in der Betreuung der am schwersten Behinderten dar, die ihre Position überhaupt nicht oder nur geringfügig verändern konnten. Von den nur leicht behinderten und erfahreneren Patienten wurde erwartet, dass sie den Transfer allein oder mit nur geringer Unterstützung oder Sicherung durchführten. Da ich mich trotz des über meinem Bett angebrachten Trapezes nicht selbst aufrichten konnte (ich schaffte es auch nicht, mich nach hinten abzustützen und hochzustemmen), waren für den Transfer entweder zwei Schwestern oder ein kräftiger Pfleger nötig. Außerdem wurden dabei noch Rutschbretter aus Holz oder Kunststoff verwendet, die den Patienten unter das Gesäß geschoben wurden, um so das direkte Heben des vollen Körpergewichts zu vermeiden. Die meisten der Pfleger waren höflich, gutmütig und hilfsbereit. Mit einem von ihnen, der sogar eine querschnittgelähmte Lebensgefährtin hat und überhaupt besonders viel Verständnis für die Probleme der Patienten zeigte, freundete ich mich bald an, als wir unsere gemeinsame Vorliebe für gute Musik entdeckten.


In der Regel begann der Tag damit, dass um sechs Uhr die „Katheter-Brigade“, bestehend aus einem Arzt, einer Schwester und einem Pfleger, ins Zimmer stürmte, den für diesen Termin vorgemerkten Patienten den Harn abzapfte und dann samt Wägelchen mit dem nötigen Zubehör ins nächste Zimmer weiter zog. Manche der gerade diensthabenden Ärzte grüßten nicht einmal beim Betreten oder Verlassen des Zimmers und ließen auch sonst durch ihr Verhalten und ihre Körpersprache erkennen, dass sie sich nur einer lästigen Pflicht an ihnen gleichgültigen Objekten entledigten. Der Vorgang des Katheterisierens erschien mir wie ein strenges Ritual mit klarer Rollenverteilung: Die Schwester betupfte die Harnröhrenöffnung mit in einer Desinfektionslösung getränkten sterilen Kompressen, der Arzt führte den durch vorheriges Einweichen gleitfähig gewordenen Katheter mit Hilfe einer sterilen Pinzette durch die Harnröhre in die Blase ein, und der Pfleger schloss einen Plastikschlauch mit einem daran hängenden Plastiksäckchen an den Katheter an. Natürlich wechselten alle daran Beteiligten vor jedem Patienten ihre Gummihandschuhe, um die Infektionsgefahr auf ein Minimum zu reduzieren. Ich musste diese Prozedur jeden Tag noch drei weitere Male über mich ergehen lassen, nämlich zu Mittag, am Abend und um zehn Uhr in der Nacht, da ich einerseits ausgiebig trinken sollte (mindestens zwei Liter pro Tag), andererseits die Blase nicht überdehnt, also nicht mit mehr als einem halben Liter gefüllt werden durfte. Sowohl über die Flüssigkeitszufuhr als auch über die Entleerungsmengen wurde genauestens Buch geführt, sogar mit Zeitangaben, da der Primarius großen Wert darauf legte und die Besprechung dieser Eintragungen oft im Mittelpunkt seiner wöchentlichen Visiten stand. Da der Primar gebürtiger Grieche war, bezeichnete ich das sonst nur als „Harnbüchel“ bekannte Heft einmal in meiner Respektlosigkeit als die „Heilige Schrift nach griechisch-orthodoxem Ritus“.


Überhaupt schienen urologische Probleme in diesem Haus besonderes Gewicht zu haben: Alle nur irgendwie in Frage kom­menden Patienten, das heißt, diejenigen, bei denen vielleicht Veränderungen der Blasenfunktion zu erwarten waren, hatten sich regelmäßig der Blasenstimulation zu unterziehen, einem gewissermaßen auf etwa eine Stunde ausgedehnten Katheterismus, bei dem die Blase zuerst vollständig entleert, dann mit einer Elektrolytflüssigkeit gefüllt und schließlich ein mit einer Elektrode bestückter Spezialkatheter in die Blase eingeführt wurde, um von innen mittels computergesteuerter Schwachstromimpulse den Blasen-schließmuskel zur spontanen Öffnung anzuregen. Die Wirkung dieser Behandlung wurde dann in einem ähnlichen, ebenso langwierigen und unangenehmen Verfahren mit der Bezeichnung Uro-Dynamik, manchmal sogar unter Verwendung einer winzigen Videokamera, die durch den Katheter eingeführt wurde, untersucht. Ich sah schon ein, dass die Normalisierung der Blasenfunktion durchaus ein wichtiges Ziel darstellte, da sich im günstigsten Falle das lästige und infektionsträchtige Katheterisieren vermeiden ließ. Immerhin hatten viele Querschnittgelähmte immer wieder durch unsachgemäßes, nicht völlig steriles Katheterisieren unter Infektionen zu leiden, die schließlich sogar zur Nierenschädigung führen konnten. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass in dieser Anstalt der Stellenwert von neurologischen und orthopädischen Aspekten der Querschnittlähmung in Relation zu denen der Urologie nicht ganz so hoch war, wie ich in meiner laienhaften Naivität angenommen hatte. Außerdem fand ich es irgendwie sogar praktisch, garantiert „trocken“ zu sein und nicht ständig Angst vor nassen Hosen haben zu müssen, da ich mich ja im Notfall nicht einfach schnell auf irgendeine Toilette begeben oder gleich überall in eine Flasche urinieren konnte. Manche Patienten waren allerdings in der Lage, durch rhythmisches Klopfen oder Drücken auf die Bauchdecke eine zumindest teilweise Entleerung herbeizuführen, was schon eine gewisse Erleichterung bedeutete. Andere, die den Harndrang weder spüren noch kontrollieren konnten und so gewissermaßen an Inkontinenz zu leiden hatten, müssten ständig ein Kondom mit einem daran hängenden Säckchen tragen.


Mag es auch seltsam erscheinen, so muss ich wohl auch für meine Darmlähmung noch dankbar sein, die es mir erlaubt, den Stuhlgang durch Medikamente und bewusste Ernährung zeitlich zu regulieren und mir so wenigstens die allergrößte Peinlichkeit und Unbequemlichkeit zu ersparen. Es ist nämlich auch so schon für einen erwachsenen Menschen demütigend genug, sich jeden zweiten Tag, im Hausjargon „Stuhltag“ genannt, bei der Verrichtung der Notdurft helfen lassen zu müssen. Auch bei der Körperpflege war ich anfangs auf Hilfe angewiesen; erst nach und nach lernte ich wenigstens, mir selbst das Gesicht, die Hände und den Oberkörper zu waschen, die Zähne zu putzen und mich zu rasieren. Gleich nach der morgendlichen Katheter-Prozedur kamen die Schwestern und Pfleger mit Duschwannen in das Zimmer, schoben diese neben die Betten, zogen uns hinüber und fuhren dann mit uns in das Badezimmer, wo wir eingeseift und abgeduscht wurden. Die beweglicheren und kräftigeren Patienten fuhren mit speziellen wasserfesten Rollstühlen unter die Dusche, die auch als Toilette Stühle zu verwenden waren. Duschen war mir nie sonderlich angenehm gewesen, es erschien mir speziell zu dieser Tageszeit immer wie ein Schock, der den Tag bereits ungemütlich beginnen ließ. Nein, da zog ich ein gemütliches Wannenbad eindeutig vor, doch dafür fehlte hier verständlicherweise im allgemeinen die Zeit; außerdem hatte sich für mich seit meinem Unfall ohnehin die Gemütlichkeit restlos aufgehört, da ich meine Sitz- oder Liegeposition so gut wie gar nicht verändern konnte. Das Wort „Bequemlichkeit“ war für mich zum Fremdwort, zum unerreichbaren Luxus geworden.
Natürlich war auch das anschließende Frühstück für mich nicht ohne Assistenz, zum Teil durch geschicktere Zimmerkollegen, zu bewältigen. Nur den Kaffee einzuschenken oder gar eine Semmel aufzuschneiden und mit Butter zu bestreichen erwies sich zu diesem Zeitpunkt als schier unmöglich, ich war schon froh, den Becher und die Semmel selbst zum Mund führen zu können. Ähnlich schwierig gestaltete sich das Mittagessen, doch hatte mir wenigstens die Ergo-Therapeutin einen Essbehelf angefertigt, der nicht nur den Löffel oder die Gabel fixierte, sondern auch mein damals noch schlaff herunterhängendes Handgelenk stützte, so dass ich zum Essen nicht mehr ständig den ganzen Arm bis in Kopfhöhe heben musste, was wahrscheinlich auch für einen gesunden Menschen auf die Dauer anstrengend und unbequem sein musste und mir bis dahin jede Mahlzeit verleidet hatte. Mir wurde bewusst, dass schon ein kleines Problem, verursacht durch Gedankenlosigkeit oder Unwissen, für mich oder einen anderen Behinderten zum unüberwindlichen Hindernis werden konnte, dass aber andererseits schon ein bisschen Einfühlungsvermögen, Mitdenken und Aufmerksamkeit scheinbar unlösbare Probleme bewältigen und unerträgliche Situationen entschärfen oder lindern konnten. Was die Qualität der Mahlzeiten betraf, konnte hier von gesunder Ernährung, wie man sie in einer Heilanstalt erwarten können sollte, leider keineswegs die Rede sein. Man hatte nämlich nur die Wahl zwischen zwei Mittagsmenüs, die zumeist aus Fleisch bestanden. Als ich mich nach vegetarischen Speisen und Vollwertkost erkundigte, verwies man mich an die Diätassistentin, die wohl mindestens dreißig Kilo Übergewicht haben musste und mich schon aus diesem Grund gleich an ihrer fachlichen Kompetenz und Eignung für diesen Posten zweifeln ließ. Dieses Vorurteil wurde zu meinem Bedauern dadurch bestätigt, dass sie mir lediglich anbot, anstelle der Fleischgerichte die totgekochten und ölgetränkten Beilagen und die ewig gleichen Portionen grünen Salats zu verdoppeln. Ich musste mich also wohl oder übel damit abfinden, dass meine Genesung in dieser Hinsicht keine Förderung zu erwarten hatte, wenn ich mich nicht privat wenigstens hin und wieder zusätzlich mit gesunden Nahrungsmitteln versorgen ließ. Das würde zwar etwas kostspielig und kompliziert werden, aber ich hatte ja zum Glück Freunde, die sich auch zumeist sehr gesundheitsbewusst ernährten.


Überhaupt darf ich wohl - nach mittlerweile fünf Aufenthalten in Krankenhäusern in 3 Bundesländern - ohne mich der Übertreibung oder gar der Verleumdung schuldig zu machen behaupten, dass die meisten Krankenhausköche den Titel Küchenchef kaum verdienen und ihren schlechten Geschmack leider nur durch Kreativität auf dem Gebiet der Resteverwertung kompensieren. Selbst in mittelmäßigen Restaurants, ja wahrscheinlich sogar in den schäbigsten Vorstadt-Beiseln und Provinzgasthöfen würden sie vermutlich auch die anspruchslosesten Gäste innerhalb kürzester Zeit vertreiben, wenn sie nicht rechtzeitig hinausgeworfen würden. Leute dieses Schlages, welche die ihnen hilflos ausgelieferten Patienten mit minimalem Arbeitsaufwand und den billigsten „Lebensmitteln“ im wahrsten Sinne des Wortes „abspeisen“, sollten lieber einen Würstelstand führen oder ihre kulinarischen Fähigkeiten in Fast-Food-Ketten beweisen. Übertrieben wäre es allerdings anzunehmen, es handle sich bei diesen Individuen um eine bundesweit agierende gastronomische Mafia, die sich in Komplizenschaft mit den Krankenkassen das organisierte Erbrechen zum Ziel gesetzt habe, um den Patienten einen allzu langen Aufenthalt in den Krankenhäusern nur ja nicht allzu schmackhaft zu machen. Es ist selbstverständlich, dass man sich in Krankenhäusern keinen besonderen Gaumenkitzel durch aufwendige und kostspielige Delikatessen erwarten darf, aber doch ein zwar schlichtes, aber ordentlich zubereitetes und vor allen Dingen gesundes Essen, wie ich meine. Wenn ich mich wiederholt über völlig versalzene Suppen und Saucen beschwerte, rechtfertigte man sich mit der Behauptung, die meisten Patienten wünschten es so. Daraufhin fragte ich, ob es keine Salzstreuer gäbe, mit denen sich jeder nach Belieben selbst vergiften könne. Wenn jemand den ganzen Inhalt in seine Suppe streuen wolle, hätte ich nichts dagegen. Da ich jedoch das überschüssige Salz nicht mehr entfernen könne, verbäte ich mir diese gerade in einem Krankenhaus unverständliche und fragwürdige Zwangsbeglückung. Auch sonst wiesen die Menüpläne der meisten Krankenhäuser zum großen Teil schwere und fette Fleischgerichte in riesigen Portionen auf, die - gewissermaßen im vorauseilenden Gehorsam - den ungesunden Essgewohnheiten der Österreicher, speziell der älteren Generationen, entsprachen, die sich ohne Rücksicht auf Verluste buchstäblich zu Tode essen. Die Statistiken von Herzinfarkten, Schlaganfällen, Magen- und Darmkrebs sind eindrucksvolle Beweise für diesen schleichenden Selbstmord mit Messer und Gabel.


Da ich nun doch ein schönes Stück außerhalb der Stadt untergebracht war, bekam ich erwartungsgemäß nicht mehr so viel Besuch wie zuvor. Auch meine Mutter, die mich beinahe jeden Tag besucht hatte, kam nur mehr jeden zweiten Tag, da die Autobusverbindung nicht besonders gut war. Die meisten Freunde, vor allem die berufstätigen, fanden in der Regel nur mehr am Wochenende Zeit für einen Besuch, da die wenigsten ein Auto hatten. So war ich doch immer öfter gezwungen, mir nach der Therapiezeit eine Beschäftigung und Ablenkung zu suchen, wenn ich nicht ununterbrochen in das elektronische „Narrenkastl“ schauen oder trüben Gedanken nachhängen wollte. Glücklicherweise fand ich bald einen Schachpartner, einen leicht gehbehinderten älteren Mann, der für einige Wochen zum Wiederholungstraining gekommen war. Er war für mich der ideale Gegner, weil er ein ebenbürtiger Spieler war und noch dazu selbst das Brett und die Figuren aufstellen und mir bei schwer auszuführenden Zügen helfen konnte. Auch sonst war er mir durch viele kleine Handreichungen, zu denen andere Rollstuhlfahrer nicht fähig gewesen wären, eine wertvolle Hilfe und ersparte es mir, dafür jedes Mal eine Schwester oder einen Pfleger rufen zu müssen. Außerdem genoss ich es, endlich nicht nur körperlich, sondern auch wieder geistig gefordert zu werden. Es war mir nämlich in den ersten Tagen und Wochen schwer gefallen, Anschluss zu finden, da die meisten der anderen Patienten entweder wesentlich jünger oder älter als ich waren und aus einem völlig anderen Milieu kamen und daher auch ganz andere Interessen als ich hatten. Mein Leben erschien mir wie eine Schachpartie, in der ich schon früh durch einen dummen Fehler die Dame oder wenigstens einen Turm verloren hatte und die ich eigentlich aufgeben hätte müssen, da sie nach menschlichem Ermessen nicht mehr zu gewinnen war und ich ja doch nur noch von einem übermächtigen Gegner gedemütigt werden würde, doch meine angeborene Hartnäckigkeit, die von Missliebigen gern als Sturheit bezeichnet wird, hatte mich stets selbst in den unerfreulichsten Situationen von der Resignation abgehalten.
Eine Woche später lernte ich einen weiteren Schachspieler kennen, der mir wegen seines besonders schweren Schicksals und der Weise, auf die er (zumindest nach außen hin) damit umging, wohl immer im Gedächtnis bleiben wird. Er mochte wohl so an die Fünfzig sein, war zusammen mit seiner Frau (die in einer ähnlichen Verfassung wie ich war) von einem betrunkenen jungen Autorowdy gerammt worden und war nun vollständig und unwiderruflich vom Kopf abwärts gelähmt, konnte keinen Finger mehr rühren. Trotzdem war er meistens gut gelaunt und bereicherte unsere Schachpartien nicht nur durch seine brillante Taktik, sondern auch durch seinen trockenen Humor, der weder Selbstmitleid noch Verbitterung über sein schreckliches Los erkennen ließ. Er lernte auch erstaunlich schnell, sich in einem Elektro-Rollstuhl fortzubewegen, den er nur mit seinem Kinn steuerte. Bald raste er in beachtlichem Tempo durch die Gänge und über die Balkonpromenade, oft mit einem ganzen Rattenschwanz junger Patienten, die sich an seinen Rollstuhl anhängten und ihn quasi als Lokomotive benutzten, zum großen Gaudium aller Beteiligten. Wahrscheinlich ist mir seine Vorbildwirkung für die Bewältigung meines eigenen Schicksals nützlicher gewesen, als es jede psychologische Beratung, die mitleidsvolle Anteilnahme von Freunden oder gar Psychopharmaka und andere Drogen sein hätten können. Auch hat mir diese Begegnung bewusst gemacht, dass ich trotz meines unfassbaren Unglücks noch immer relativ glimpflich davongekommen war und dass es Menschen gab, denen es noch wesentlich schlechter ging als mir. Noch heute muss ich oft an diesen Mann denken und frage mich, wie er wohl mit seinem Leben zurechtkommen mag, einem Leben, das selbst ich mir in meiner eigenen Extremsituation kaum vorzustellen vermag. Bevor ich ihn kennenlernte, hatte ich mein Schicksal als das größte Unglück empfunden, das einem Menschen zustoßen kann.
Obwohl es unmöglich und sinnlos ist, die Tragik eines Schicksals zu messen und mit der eines anderen zu vergleichen, fragte ich mich manchmal, ob ich lieber an einem unheilbaren und tödlichen Leiden erkrankt wäre und mich damit leichter abgefunden hätte. Selbst Krankheiten wie Krebs oder AIDS erschienen mir vergleichsweise harmlos, da man wenigstens bis knapp vor dem bitteren Ende ein einigermaßen „normales“, unauffälliges Leben führen kann und vor allem nicht ständig auf Hilfe angewiesen ist. Außerdem ist bei solchen Krankheiten nicht zu befürchten, dass man sich schlimmstenfalls jahrzehntelang Tag für Tag weiterquälen muss. Es mag ja wirklich fast alles lächerlich sein, wenn man an den Tod denkt, doch angesichts einer so schweren Behinderung, die einen Menschen nur noch hilflos unter Schmerzen dahinsiechen lässt, verliert selbst der Tod seinen Schrecken.


Das Rehabilitationszentrum verfügte über eine große Schwimmhalle mit einigen Installationen, die auch Querschnittgelähmten die Benützung ermöglichten. Es gab zwar keine gezielte Physio-Therapie, aber man empfahl mir, die entkrampfende Wirkung des warmen Wassers und den Auftrieb für meine Bewegungsübungen zu nutzen. Da ich Nichtschwimmer war, hatte das Wasser für mich nichts Verlockendes, doch ließ ich mich trotzdem mit einem speziellen Gerät in das Becken hieven, nachdem man mir eine Schwimmweste angelegt hatte. Es war zwar ein Therapeut zur Aufsicht anwesend, doch blieben ich und jeder der übrigen, zumeist nur leicht behinderten Patienten, uns weitgehend selbst überlassen. So planschte ich eine Weile herum, wobei ich mich bemühte, möglichst am Rand des Beckens zu bleiben, da ich mich verständlicherweise nicht sehr sicher fühlte. Als ich eine ungeschickte Bewegung machte, trieb ich auf einmal mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser, so dass ich nicht einmal um Hilfe rufen konnte. Obwohl ich nicht untergehen konnte, wäre ich wahrscheinlich ertrunken, hätte nicht ein anderer Patient zufällig meine Lage erkannt und mich auf den Rücken gedreht.
„So ist das also, wenn man ertrinkt“ war alles, was ich dabei dachte, ganz ruhig, ohne Panik, wie ein unbeteiligter Beobachter. Ich weiß nicht, ob ich mich selbst retten hätte können, doch hatte ich weder die Kraft noch den Willen aufgebracht, gegen den Tod anzukämpfen, sondern hätte ihn ohne Bedauern hingenommen, ja fast als willkommenen Ausweg betrachtet, der mir die Entscheidung über Sein oder Nichtsein abgenommen hätte. Trotzdem wollte ich das Schicksal nicht herausfordern und verzichtete von da an auf weitere Wasserspiele und nützte meine freien Nachmittage lieber für Spazierfahrten an der frischen Luft.
Die Belegung meines Zimmers wechselte rasch, da nur relativ wenige „frische“ Patienten eingeliefert wurden, aber viele langgediente „Rollstuhl-Veteranen“, die nur zum Uro-Check, zum Wiederholungstraining oder wegen einer Operation hier waren, kamen. Von ihnen bekam ich die wirklich wertvollen Tipps aus langjähriger Praxis und lernte mit der Zeit, worauf es beim Leben im Rollstuhl ankam, welche Gefahren auf mich lauerten, mit welchen Tricks man seine Handicaps ausgleichen konnte und welche Möglichkeiten für ein einigermaßen erfülltes Leben einem Rollstuhlfahrer trotz allem noch offenstanden.


Ich lernte zwischen kompletter (endgültiger) und inkompletter (mit Besserungsmöglichkeit) Lähmung, zwischen „Tetras“ (Tetraplegiker mit Beeinträchtigung aller vier Extremitäten) und „Paras“ (Paraplegiker mit gesundem Oberkörper), „Halswirblern“, „Brustwirblern“ und „Lendenwirblern“ (nach der Verletzungshöhe) zu unterscheiden. Als einige von uns Tetras beim Rollstuhltraining wieder einmal viel zu langsam waren und die anderen auf uns warten müssten, prägte für uns einer der Paras, ein witziger Kerl, mit dem ich mich besonders gut verstand, da er auch sonst sehr kreativ war und ich mich mit ihm gut über moderne Kunst unterhalten konnte, zum Spaß das Schimpfwort „Tetra-Pack“.
Auch sonst lernte ich mit der Zeit viele außergewöhnliche Charaktere kennen, so zum Beispiel einen jüngeren Mann, der nach einem missglückten Selbstmordversuch außer einer Querschnittlähmung auch eine schwere Kopfverletzung davongetragen hatte. Er schien zwar recht intelligent, aber mehr als nur ein wenig exzentrisch zu sein, da er sich meist wie ein Dandy kleidete, oft aber auch sogar während der Besuchszeit splitternackt zwischen Dusche und Toilette und auf dem Balkon umherfuhr und dabei aus voller Kehle alte Schlager trällerte, sich ungebeten in jedes Gespräch einmischte und bei jedem weiblichen Wesen Annäherungsversuche machte. Ein anderer, der auch schon seit mehr als zehn Jahren im Rollstuhl saß, war für seine scharfe Zunge, sein cholerisches Temperament und seine Trinkfestigkeit bekannt. Einmal hatte er angeblich sogar einer Schwester, nur weil sie ihn für seinen Geschmack zu früh geweckt hatte, eine volle Harnflasche nachgeworfen, um sich so ein für alle Mal Respekt zu verschaffen. So traf ich immer wieder auf Menschen, die ich sonst wahrscheinlich nie kennengelernt hätte, doch blieben die Kontakte schon wegen der relativ kurzen Aufenthalte in der Regel doch eher oberflächlich und unverbindlich, jeder hatte in erster Linie seine eigenen Probleme und seinen eigenen Kampf zu kämpfen.


Es gab aber auch noch andere Kämpfe zu bestehen, und zwar bei den Sportfesten, die in langjähriger Tradition jeden Sommer auf dem Gelände des Rehabilitationszentrums veranstaltet wurden und zu denen sogar sehr viele längst entlassene Rollstuhlfahrer mit ihren Familien anreisten. Da ich schon vor meinem Unfall nichts für Sport übrig gehabt hatte und auch jetzt mein tägliches Training als lästige, mühsame Quälerei empfand, die mir unter anderen Umständen überhaupt als reine Zeitverschwendung erschienen wäre, wollte ich eigentlich nicht an den Wettkämpfen teilnehmen, ließ mich dann aber doch von meinen Therapeutinnen überreden. Da es in meiner Verfassung für mich nichts zu gewinnen gab, nicht einmal in der schwächsten Kategorie, musste ich wohl oder übel den olympischen Gedanken übernehmen, demzufolge das Dabei-Sein alles war und es nicht auf den Erfolg ankam. Zum Glück gab es wenigstens ein Schachturnier, bei dem ich dann einen der vorderen Plätze erobern konnte, während ich sonst erwartungsgemäß bei allen übrigen Disziplinen an letzter oder vorletzter Stelle landete. Immerhin bedeutete das Sportfest mit seinem ganzen Rummel, den Show-Einlagen mit einer Rollstuhl-Tanztruppe und abschließendem Grillen mit Freibier eine doch recht nette, wenn auch etwas anstrengende Abwechslung vom grauen Therapie-Alltag.


Trotzdem betrachte ich Behinderten-Wettkämpfe immer noch mit Skepsis, da sie zwar für einzelne Versehrten-Sportler, die zu ihrem Glück nur von einer relativ leichten Behinderung betroffen und ansonsten in einer sehr guten körperlichen Verfassung sind, eine große Genugtuung und Befriedigung bedeuten können, in der Öffentlichkeit jedoch möglicherweise ein falsches, verzerrtes Bild vom Leben eines Behinderten erzeugen. Man kann und soll die beeindruckenden Leistungen dieser Menschen natürlich würdigen und respektieren und auch den psychologischen Wert ihrer Erfolge anerkennen, dabei aber nicht die große Zahl von Schwerstbehinderten vergessen, die mit ihrem Leben nicht so gut und scheinbar mühelos zurechtkommen, sondern Tag für Tag von Schmerzen und Krämpfen gequält werden, ständig auf unlösbare Probleme stoßen und sich völlig hilflos und unnütz fühlen.


Offensichtlich lassen sich sportliche Rekorde in den Massenmedien besser verkaufen als die stille Verzweiflung unzähliger Menschen, die ohne Hilfe nicht einmal ihr Bett, geschweige denn ihre Wohnung verlassen können und so meist ohne sinnvolle Beschäftigung anscheinend sinn-los vor sich hin vegetieren und jeden Abend vor dem Einschlafen froh sein müssen, wieder einmal einen Tag voller Qualen und Frustrationen „überstanden“, aber eigentlich doch eher nur ein winziges Stück einer lebenslänglichen Strafe „abgesessen“ zu haben, bei der es keine Aussicht auf Amnestie oder Bewährung gibt. Auch ich finde es natürlich wichtig, wenn ein Behinderter im Rahmen seiner körperlichen oder geistigen Fähigkeiten aktiv bleibt und sich fit hält, seine Zeit sinnvoll verbringt und, falls möglich, sich durch Arbeit selbständig und nützlich macht und sich so auch leichter in die Gesellschaft integriert. Sieht man jedoch einen dieser tüchtigen Leistungssportler im Rollstuhl, kann man viel leichter mit ruhigem Gewissen zur Tagesordnung übergehen, im Bewusstsein, dass ja offensichtlich alles nicht so schlimm ist und diese Menschen ihr Leben ja ohnehin erstaunlich gut im Griff haben, fast hätte ich gesagt, mit beiden Beinen im Leben stehen.


Zur Vorbereitung auf derartige Betätigungen war die Ergo-Therapie vorgesehen. Inoffiziell war der Therapieraum zum Treffpunkt für geselliges Beisammensein geworden, wo man sich nach der beschwerlichen Physio-Therapie zu einem gemütlichen Plausch treffen konnte und wo auch die Raucher nicht auf ihr Laster verzichten müssten. Hier konnte man seine Feinmotorik an kunsthandwerklichen Arbeiten wie Seidenmalerei und Korbflechten erproben und schulen, seine Fingerfertigkeit bei diversen Brett- und Geschicklichkeitsspielen trainieren oder sich auf die künftige Arbeit im Haushalt vorbereiten, da sogar eine perfekt eingerichtete Werkstätte und eine Übungsküche zur Verfügung standen. Auch den Transfer zwischen Rollstuhl und Auto oder Badewanne konnte man mit Hilfe eines speziell für diesen Zweck adaptierten Modells üben.
Meine durch die Elektrostimulation wieder zum Leben erweckten Finger wurden allmählich durch gezielte Übungen immer geschickter und kräftiger, ich lernte unter anderem, wieder ohne technische Hilfsmittel zu schreiben, zu essen oder Verschlüsse zu öffnen. Ich konnte auch endlich wieder Bücher halten und in ihnen blättern, was mir sehr viel bedeutete. Es war mir auch sehr wichtig, endlich meine Fingernägel wieder selbst schneiden zu können, da es mir immer unangenehm gewesen war, andere Leute an meinen empfindlichen Fingerspitzen herumschnippeln zu lassen. Leider schien sich jedoch mein linker Arm, und zwar von der Schulter bis zu den Fingern, viel langsamer zu erholen als der rechte. Noch heute fällt es mir viel schwerer, diesen Arm zur Gänze auszustrecken oder die Faust fest zu schließen. Auch die linke Schulter schmerzte mich viele Monate lang und widersetzte sich hartnäckig allen Therapieversuchen durch Gymnastik, Massage und Einreibungen. Erst als ich später meinen eigenen Rollstuhl bekam, ließen die Schmerzen allmählich nach. Anscheinend war allein die ungünstige Sitzhaltung für das scheinbar unlösbare Problem verantwortlich gewesen.
Ich machte also Fortschritte, und ich hätte mit dem bis dahin Erreichten einigermaßen zufrieden sein können, wäre da nicht ein neues Problem aufgetaucht: Meine Beinmuskulatur, die anfangs zwar schwach, aber locker gewesen war, neigte auf einmal zu Krämpfen, was immer wieder in unregelmäßigen Abständen zu schmerzhaften Kontrakturen und Zitteranfällen führte. Besonders dann, wenn ich schon stundenlang auf einer Seite gelegen war und sich meine Position durch eine der Kontrakturen veränderte, hatte ich das Gefühl, als ob jemand mit einem Messer in meinen Beinmuskeln herumwühlte. Die Schmerzen ließen erst nach, wenn die Beine wieder in die ideale Position gelagert wurden, doch es war nicht immer ein Besucher oder Zimmergenosse zur Stelle, der das sofort für mich tun hätte können, und es dauerte manchmal doch einige Minuten, bis eine Schwester oder ein Pfleger auf mein Klingeln reagierte und mir zu Hilfe kam.


Einmal waren die Schmerzen besonders schlimm, doch ich lag allein im Zimmer und konnte nur ohnmächtig warten, bis auf mein mehrmaliges Läuten nach etwa einer Viertelstunde endlich eine Schwester auftauchte und ungeduldig fragte, warum ich denn ununterbrochen geklingelt hätte. Als ich sie, ohnehin schon schweißgebadet und mit schmerzverzerrtem Gesicht, auf meine Lage und die lange Wartezeit aufmerksam machte, antwortete mir diese „barmherzige“ Schwester nur schnippisch: „Glauben Sie vielleicht, Sie sind der einzige Patient, um den wir uns zu kümmern haben? Wie kann man nur so wehleidig sein, Sie werden sich an die Schmerzen gewöhnen müssen!“
Zuerst war ich wegen dieser Frechheit sprachlos (was mir zum Glück nur selten passiert), dann war ich nahe daran, sie einen blöden, unverschämten Trampel zu nennen und das ganze Haus zusammenzubrüllen, beherrschte mich dann aber doch und antwortete ihr nur mit hasserfülltem Blick und der ganzen Ruhe, die ich aufbringen konnte: „Irgendwann werden auch Sie Schmerzen haben und Hilfe brauchen. Ich hoffe, Sie haben dann genug Zeit, sich daran zu gewöhnen!“
Schließlich bequemte sie sich dann doch dazu, mir zu helfen und verließ dann schnell das Zimmer. Ich erwog, mich über sie bei der Stationsschwester, dem Oberarzt oder gar dem Primar zu beschweren, entschied mich jedoch dagegen, da ich noch länger in dieser Anstalt bleiben musste und ich mir in dieser Lage keine Feinde machen wollte. Wäre ich nicht so hilflos und abhängig gewesen, hätte ich mir jedoch sicherlich kein Blatt vor den Mund genommen. So hatte ich es immer gehalten, mir war es immer gleichgültig gewesen, ob mein Kontrahent stärker, einflussreicher oder mir sonst irgendwie überlegen war. Darum war ich nun umso wütender, auch auf mich selbst, weil mir nicht nur physisch, sondern gewissermaßen auch psychisch die Hände gebunden waren. Ich sagte mir zwar, dass ich durch meine Selbstbeherrschung möglicherweise mehr innere Stärke bewiesen und wahrscheinlich das Richtige getan hatte, schwor mir aber gleichzeitig, mir in Zukunft keinerlei Respektlosigkeiten mehr bieten zu lassen, da ich das einfach meiner Selbstachtung schuldig war.


Als meine Spasmen und Schmerzen immer häufiger und intensiver wurden und auch meine Therapie beeinträchtigten, verordnete man mir krampflösende Tabletten, die allerdings den Nachteil hatten, dass sie mir einen Teil meiner ohnehin schon geringen Muskelkraft nahmen und mich müde machten. Alles in allem kam ich so zeitweise auf beinahe 20 (!) Tabletten, Kapseln und Dragees pro Tag, was naturgemäß auch für meinen Magen und andere Organe nicht besonders gesund sein konnte und von meinem Hausarzt missbilligend verfolgt wurde. Man sagt, dass sich das Alter eines Menschen daran ablesen lässt, wie viele Stufen oder Tabletten er gleichzeitig nimmt. So gesehen war ich wohl schon mindestens hundert Jahre alt, und manchmal fühlte ich mich auch so: Verbraucht, ausgebrannt, ein biologisches Abfallprodukt, reif für die Endlagerung. Mein ganzer Elan und Optimismus der ersten Wochen waren verflogen, ich litt unter schweren Depressionen und konnte keinen Sinn in dieser armseligen, unerträglichen Existenz sehen. Ich musste wieder an meinen Vater denken und konnte verstehen, dass er sich wohl gern selbst das Leben genommen hätte, wenn er nur dazu in der Lage gewesen wäre. Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als ohne Hoffnung und Perspektive und bei vollem, klarem Bewusstsein seine absolute Hilf- und Nutzlosigkeit zu erkennen. Was nützte mir mein Wissen, meine Intelligenz, mein Geld, solange ich in dieser Körperruine gefangen war? Was nützte mir meine Beharrlichkeit, mein Fleiß, meine Anstrengung, wenn mein eigener Körper mein größter Feind war und mir immer wieder einen Strich durch die Rechnung machte? Wenn ich beim Rasieren in den Spiegel blickte, schaute mir ein fremdes Gesicht mit leeren, traurigen Augen entgegen, ein alter, müder Samurai, der einen längst verlorenen Kampf nur deshalb weiterkämpfte, weil seine Ehre und die Disziplin es von ihm verlangten.


Ich aß und trank nur mehr wenig und ohne jeden Appetit, machte meine Übungen mechanisch und ohne Begeisterung und ließ mich nur hin und wieder durch den Besuch einer Freundin oder eines Freundes wenigstens kurzfristig etwas aufheitern. Selbst meine geliebte Musik, die mich früher in den schwierigen Phasen meines Lebens immer wieder aufgerichtet hatte, brachte mich nun zum Weinen, wenn ich mich einmal allein und unbeobachtet in einen Winkel verkriechen konnte, da sie mich ja doch nur an die Zeit erinnerte, wo die Welt für mich noch in Ordnung gewesen war. Ich begann nun sogar, gegen den Rat meines Hausarztes, die mir verordneten Antidepressiva und Schlaftabletten zu schlucken, die ich bis dahin verschmäht und weggeworfen hatte. Mir war bewusst, dass mein Zustand allgemein mit Sorge beobachtet wurde und dass es so nicht weitergehen konnte, wenn ich nicht als hoffnungsloser Pflegefall enden sollte. Trotz der vielen Medikamente machte sich mein ungeliebter Körper immer wieder selbständig und spielte in den unpassendsten Momenten verrückt: Griff ich nach einem Gegenstand, begann oft meine Hand oder der ganze Arm plötzlich unkontrollierbar zu zittern, so dass ich ihn fallen ließ oder umstieß. Fuhr ich im Rollstuhl und saß nicht ganz richtig, so begannen meine Knie so stark zu zittern, dass es den ganzen Rollstuhl erschütterte, meine Füße vom Trittbrett rutschten und an ein Weiterfahren nicht mehr zu denken war, bevor mir jemand zu Hilfe gekommen war.
Schließlich schritt der Primarius, dem mein Zustand natürlich nicht verborgen geblieben war, ein und legte mir eine neuerliche Operation nahe, die meine Probleme weitgehend lösen sollte. Man würde mich nach Wien ins AKH schicken, wo man auf der neurologischen Abteilung derartige Fälle nach einem neuen, aus Amerika stammenden Verfahren behandelte. Ich würde eine computergesteuerte Pumpe, untergebracht in einem Metallgehäuse von der Größe einer Fahrradglocke, seitlich in die Bauchdecke implantiert bekommen, die dann ein flüssiges Medikament direkt zum Rückenmark leitete und ganz gezielt und exakt dosiert Spasmen und Schmerzen ohne allzu große Nebenwirkungen unterbinden würde. Die Neurologie hatte einen ausgezeichneten Ruf und hatte erst vor kurzer Zeit von sich reden gemacht, als man dort einen prominenten Rennfahrer nach einem schweren Unfall in relativ kurzer Zeit wieder auf die Beine gebracht hatte. Was hatte ich in meiner verzweifelten Lage schon viel zu verlieren? Natürlich wäre es mir lieber gewesen, wenn mir eine weitere Operation erspart geblieben wäre, denn niemand kommt gern unters Messer, doch es musste einfach irgendetwas geschehen. Auch die Unfallversicherung bestätigte die Notwendigkeit des Eingriffs und erklärte sich bereit, für die nicht unbeträchtlichen Kosten aufzukommen. Gemeinsam mit mir war noch ein etwa sechzigjähriger Mann für die gleiche Operation vorgesehen, der zwar wesentlich kräftiger und geschickter als ich war, dafür aber unter noch schlimmeren Krämpfen und entsetzlichen Schmerzen zu leiden hatte, die ihn oft zum Schreien brachten und kaum noch schlafen ließen.


Der Transport nach Wien war erwartungsgemäß äußerst strapaziös, mein geschwächter Organismus reagierte auf die lange Fahrt mit mehreren Übelkeitsanfällen, so dass ich mein Ziel in einem ziemlich erschöpften und elenden Zustand erreichte. Wir hatten zwar genau zu diesem Zeitpunkt hinkommen müssen, da sonst keine Betten frei gewesen waren, müssten dann aber nach der Untersuchung, welche die Sinnhaftigkeit und Erfolgsaussichten der Operation klären sollten, noch mehr als eine Woche auf den Operationstermin warten, da die Pumpen nicht auf Lager waren und erst bestellt werden müssten. Das Personal war zwar tüchtig, gemütlich und leger auf die typisch wienerische Art, auch der langmähnige Dozent, der seine Visiten manchmal im Nadelstreif, dann wieder in der Lederjacke absolvierte, doch sonst machte die neue Umgebung einen eher deprimierenden Eindruck auf mich: Ein uraltes Gebäude mit Löchern im Verputz, viele ebenso alte und einige sehr junge Patienten, die aufgrund von Kopfverletzungen, anderen Hirnschädigungen oder Schlaganfällen zum großen Teil nicht nur gelähmt oder körperbehindert, sondern zumeist überhaupt nicht mehr ansprechbar waren, nur noch lallen oder röcheln konnten und apathisch vor sich hin starrten. Es gab keinen Münzfernsprecher, das einzige verfügbare Handy war tagelang kaputt, fernsehen konnte man nicht im Zimmer, sondern nur im Aufenthaltsraum. Hier gab es keine „Zeit des Erwachens“, und ich konnte es kaum erwarten, über dieses „Kuckucksnest“ zu fliegen. Hätte ich nicht meinen Walkman, meinen Schachcomputer und einige Bücher bei mir gehabt, so wäre dieser dreiwöchige Aufenthalt für mich noch schwerer zu ertragen gewesen.


Nach der Operation ging es darum, die Pumpe optimal einzustellen. Mit Hilfe eines Computers wurde meine Dosierung wie ein Videorecorder programmiert, dann wurden tagelang mein Muskeltonus und meine Reflexe gemessen. Es galt, einen praktikablen Kompromiss zwischen völliger Kraftlosigkeit bei totaler Muskelentspannung und den schmerzhaften Spasmen zu finden, die meine Muskeln versteift und verspannt hatten. Zuerst war die Dosis zu hoch, so dass ich schlaff und müde dalag und Angst bekam, alles bis dahin Erreichte wieder zu verlieren, dann wurde ich wieder von Krämpfen geschüttelt. Schließlich gelangten wir zu einem Ergebnis, auf das sich der Dozent und ich in einem ausführlichen Beratungsgespräch geeinigt hatten. Ich musste aber ohnehin bereits nach sechs Monaten zur Nachfüllung der Pumpe wiederkommen, wobei ich dann auch die Dosierung ändern lassen konnte. Mittlerweile bin ich schon viermal in Wien gewesen und habe die Dosis geringfügig erhöhen lassen, da ein gewisser Gewöhnungseffekt kompensiert werden muss. Beide Arme neigen nach wie vor immer wieder in unregelmäßigen Abständen zu starken Krämpfen, die mir selbst die leichtesten Tätigkeiten trotz meiner an sich ausreichenden Kräfte ungeheuer erschweren, da ich nicht nur das Gewicht der jeweiligen Geräte, sondern den Widerstand meiner eigenen Muskeln überwinden muss. Es ist mir bewusst, dass ich mir durch eine deutlich höhere Dosierung dieses irritierende Gefühl, als steckte ich in einer Zwangsjacke, ersparen könnte, dafür aber mit völliger Kraftlosigkeit bezahlen müsste. Überhaupt hatte ich in vielen Situationen immer wieder den Eindruck, lediglich von mehreren Übeln das kleinste, selten aber etwas wirklich Angenehmes wählen zu können.
Nach drei Wochen war ich richtiggehend froh, wieder in das Rehabilitationszentrum zurückkehren zu können, wo ich Besuch bekam, mich mit anderen Patienten unterhalten und auch ins Freie fahren konnte. Ich freute mich auch darauf, wieder mit meiner Therapeutin trainieren und das verlorene Terrain aufholen zu können. Langsam wurde ich wieder kräftiger, machte verschiedene Widerstandsübungen und hatte beim Transfer und beim Durchbewegen weniger Probleme als zuvor. Ich musste auch lernen, mich im Liegen hin und her zu drehen, was mir allerdings nur nach rechts ohne Hilfe meiner Therapeutin gelang. Einerseits erleichterte mir das relativ harte Therapiebett die Bewegung, andererseits entsprach es nicht den echten Bedingungen im Pflegebett mit der ohnehin weicheren Matratze und dem noch zusätzlich eingebauten Luftkissen, das ich mittlerweile angesichts meiner vielen Probleme zugestanden bekommen hatte. Ich nahm auch das Stehtraining wieder auf, zuerst am Stehbrett, dann am Stehtisch, der wie ein Rednerpult aussah und mit schwenkbaren gepolsterten Stützen von hinten das Einknicken der Gelenke und das Zusammensacken verhinderte. Trotzdem bedeutete es für einen Anfänger mit schwachen Bauch- und Rückenmuskeln eine ungeheure Anstrengung, auch nur einige Minuten mit einem einigermaßen aufrecht gestützten Oberkörper durchzuhalten, obwohl es bei den Routiniers so leicht aussah. Allmählich steigerte ich die Stehzeiten, bis ich immerhin bei einer halben Stunde angelangt war und dabei sogar Zeitung lesen oder ein im angrenzenden Turnsaal ablaufendes Spiel verfolgen konnte, ohne dabei ins Keuchen und Schwitzen zu kommen. Ich bekam auch Stehschalen angemessen, die nach Gipsabgüssen aus Kunststoff angefertigt wurden und von den Knöcheln bis zu den Oberschenkeln reichten. Waren sie angeschnallt, blieben die Kniegelenke natürlich gestreckt, so dass ich frei in einem Barren stehen konnte. Der Therapieplan hätte vorgesehen, meine Muskeln und meinen Kreislauf durch das Stehtraining so weit zu kräftigen, dass ich im günstigsten Falle irgendwann vielleicht sogar ohne künstliche Gelenksstützen auskommen und zuerst frei im Barren, dann idealerweise sogar nur mit Krücken gehen können sollte. Das Minimalziel bestand darin, dass ich mich wenigstens mit angeschnallten Stehschalen gewissermaßen aus der Hüfte heraus fortbewegen sollte. Leider spielte dabei mein Körper nicht mit, da nur mein linkes Bein stark genug wurde, einen Teil des Gewichts ohne Stütze zu tragen, und auch das nur für ganz kurze Zeit.


Ein noch viel größeres Problem bestand darin, dass sich im Laufe der Zeit in meinen Hüftgelenken, besonders im rechten, starke Kalkablagerungen gebildet hatten, die ihre Beweglichkeit drastisch einschränkten. Diese Verkalkung tritt aus ungeklärter Ursache bei vielen Querschnittgelähmten in verschiedener Stärke und Ausdehnung auf und kann anscheinend von der Schulmedizin weder verhindert noch gestoppt werden. Höchstens die operative Entfernung kann Erfolg versprechen, ein Nachwachsen der Kalkablagerungen ist jedoch nicht auszuschließen. Für mich bedeutete die Verkalkung der Hüfte nicht nur, dass ich mit den Stehschalen nicht gehen konnte, sondern auch, dass ich meinen Oberkörper nicht nach vorne beugen und so zum Beispiel etwas aus dem hinteren Bereich des Kühlschranks holen oder etwas vom Boden aufheben konnte. Noch schwerer wog jedoch, dass ich nicht meinen Schwerpunkt nach vorne verlagern, mich so vom Sitzkissen heben und schulmäßig den Transfer zwischen Bett und Rollstuhl ganz allein oder nur mit geringer Unterstützung durchführen konnte, wie es viele andere Rollstuhlfahrer nach und nach in der Therapie lernten. Es bedeutete auch, dass ich mir weder Strümpfe noch Schuhe oder Hosen selbst an- und ausziehen konnte und für diese banalen Tätigkeiten wahrscheinlich bis an mein Lebensende Hilfe brauchen würde, eine ebenso absurde wie unerträgliche Vorstellung. Solange der Verkalkungsprozess nicht endgültig abgeschlossen war und nicht alle anderen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft waren, wollte ich lieber noch nicht die physische und psychische Belastung einer weiteren Operation auf mich nehmen. Die Zeit würde zeigen, wie ich mit diesem zusätzlichen Handicap am besten zu Rande kommen konnte, und ich musste eben im Augenblick aus meinem Körper wenigstens durch Konzentration und Übung das Mögliche herausholen und meine Grenzen akzeptieren. Außerdem machte mir mein Hausarzt, zu dem ich durch gemeinsame private Interessen eine engere Beziehung hatte, große Hoffnungen, er würde nach meiner Entlassung mit Hilfe von alternativer Ganzheitsmedizin und Naturheilmethoden bei mir eine deutliche Besserung meines Zustandes erreichen können. Er setzte auf Homöopathie, Akupunktur, biologisch angebaute Vollwertnahrung und sprach sich entschieden gegen pharmazeutische oder chirurgische Maßnahmen aus, die er für unnatürliche Eingriffe in den ganzheitlichen biologischen Heilungsprozess hielt.


Ich hatte schon mehr als ein halbes Jahr, so lange dauerte in der Regel der Aufenthalt im Rehabilitationszentrum, an Therapie hinter mir und musste mir allmählich Gedanken über die Zeit nach meiner Entlassung, ja über meine ganze Zukunft machen. Manche meiner Zimmergenossen und auch andere Patienten waren schon wiederholt über das Wochenende oder sogar für mehrere Tage auf Heimurlaub nach Hause gefahren, um sich auf ihre Rückkehr ins Privatleben vorzubereiten. Sie befanden sich allerdings zumeist in einem wesentlich besseren Zustand als ich, brauchten viel weniger Hilfe und hatten auch noch den entscheidenden Vorteil, Ehepartner, Lebensgefährten und andere Familienangehörige zu haben, mit deren Unterstützung sie rechnen konnten. Ich war allein, hatte nur eine Mutter, die selbst schon alt, wenn auch zum Glück noch nicht selbst gebrechlich und pflegebedürftig war und von der ich auch nicht allzu viel erwarten durfte. Zudem befand sich meine Wohnung im dritten Stock (ohne Aufzug!) und war natürlich auch nicht behindertengerecht eingerichtet. Wie sehr ich diese Räume vermisste, die von mir eigenhändig liebevoll und sorgfältig nach meinem persönlichen Geschmack ausgestattet waren, mein Refugium, in das ich mich so gern zur Entspannung zurückgezogen, in dem ich aber auch voller Stolz Freunde und Besucher aus aller Welt empfangen hatte und wo seit vielen Monaten meine unzähligen Bücher und Schallplatten auf mich warteten!


Man riet mir, die Sozialberatungsstelle aufzusuchen, wo man mir Möglichkeiten der Gestaltung meines weiteren Lebens zeigen und mir bei der Abwicklung organisatorischer Probleme und in Rechtsfragen behilflich sein würde. Die erste Besprechung verlief für mich gleich sehr unerfreulich, da mir die Sozialarbeiterin, die sich auf die ärztlichen Befunde, Stellungnahmen des Pflegepersonals und die Therapieprotokolle stützte, von vornherein von der Rückkehr ins Privatleben abriet, da ich auf Grund meiner körperlichen Verfassung als Pflegefall anzusehen sei und niemals allein zurechtkommen würde. Daher käme für mich nur die Unterbringung in einem Pflegeheim in Frage, wo eine ähnliche Betreuung wie im Rehabilitationszentrum gewährleistet sei. Diese Eröffnungen bedeuteten einen schweren Schock für mich und deprimierten mich zutiefst. War es wirklich mein Schicksal, dass ich nie wieder in meinen eigenen vier Wänden leben konnte und meine Privatsphäre auf ein Minimum beschränkt bleiben würde, was für einen so eigenwilligen und sensiblen Individualisten wie mich eine absolute Katastrophe bedeutete? Ich ging zwar vorerst scheinbar auf dieses zweifelhafte Angebot ein und zeigte mich kooperativ, indem ich mir die diversen Unterbringungsmöglichkeiten auflisten und beschreiben ließ, war jedoch in all meiner Verzweiflung noch lange nicht wirklich zur Kapitulation bereit.


Es erwies sich nach zahllosen Telefonaten, dass freie Plätze in Pflegeheimen ohnehin sehr schwer zu finden waren und fast überall lange Wartelisten von Patienten bestanden, zumindest im Stadtgebiet. Weiter entfernt, also in der tiefsten Provinz gelegene Institutionen lehnte ich sofort entschieden ab, da ich dort noch weniger Besuch bekommen und noch isolierter sein würde und auch sonst die ganze mir wichtige Infrastruktur fehlte. Was alle Pflegeheime gemeinsam hatten, waren die astronomisch hohen Kosten, die mit Sicherheit nicht aus der bescheidenen Frühpension abzudecken waren, die ich nach meiner Entlassung zugesprochen bekommen würde. Auch das Pflegegeld und die Unfallrente, die mir nach meiner endgültigen Anerkennung als Arbeitsunfall zustanden, reichten nicht völlig, so dass der Rest aus meinen Ersparnissen gedeckt werden musste. Dass mir dabei gerade noch ein äußerst bescheidenes Taschengeld bleiben würde, verstand sich von selbst. Zu allem Überfluss hätte ich noch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einmal ein Zimmer für mich allein bekommen, sondern es auch noch mit irgendeinem uralten Pensionisten teilen müssen. Als man mir schließlich noch die Unterbringung in demselben Altersheim zumuten wollte, in dem schon mein Großvater und mein Vater gestorben waren, war meine Toleranzgrenze endgültig überschritten. Entrüstet fragte ich, wie man sich das vorstelle, dass ich bis an mein Ende unter lauter alten Menschen dahinvegetieren sollte. Da solle man mich doch lieber gleich einschläfern oder mir verraten, wie ich selbst kurz und schmerzlos Schluss machen konnte. Daraufhin schickte man mich zur Hauspsychologin, einer jungen, einfühlsamen Frau, die sich in meine Situation hineindenken konnte und mir versprach, sich für mich bei den Ärzten und den anderen Entscheidungsträgern dahingehend einzusetzen, dass eine menschenwürdige und mir zumutbare Lösung gefunden werde.


Wie schon früher erwähnt, bildet der Katheterismus einen Schwerpunkt im Tagesablauf eines Querschnittgelähmten, und da dieser Vorgang laut Vorschrift bei weiblichen Patienten wenigstens von Krankenschwestern, bei männlichen Patienten sogar von Ärzten durchgeführt werden musste, sofern der Patient dazu nicht selbst in der Lage war, schien schon allein aus diesem Grund bei mir eine ständige ärztliche Betreuung unbedingt erforderlich. Ich hatte bemerkt, dass die meisten der älteren Patienten und alle Paraplegiker sich selbst katheterisierten und damit von den Ärzten unabhängig waren. Wenn mir das auch gelang, war meine Selbständigkeit entscheidend vergrößert und ein großes Hindernis auf dem Weg zu meiner Freiheit beseitigt. Ich bat meine Ergo-Therapeutin, mir eine Methode beizubringen, die ich mit meinen zwar nicht gerade kräftigen, mittlerweile aber doch recht geschickt gewordenen Händen bewältigen konnte. Sie besorgte mir alle notwendigen Utensilien: Katheter, Harnflasche, Desinfektionsmittel, Kompressen, Schere, Kochsalzlösung, Abfallbeutel und Alu-Haken zum Herunterspannen der Jogginghose. Das sah recht kompliziert aus, und es war auch anfangs überhaupt nicht leicht, die Arbeit von drei Personen (die noch dazu über gesunde Hände verfügten) mit meinen halbgelähmten Fingern ganz allein auszuführen, und das so steril wie nur möglich. Natürlich ging anfangs vieles schief, da ich oft mit der Katheter Spitze irgendwo anstieß und deshalb wieder von vorne beginnen musste. Dann schaffte ich es wieder nicht, den Katheter gleichzeitig durch den Blasenschließmuskel zu drücken und das andere Ende schnell genug in die Harnflasche zu halten, so dass der größte Teil des Urins auf meiner Hose landete. Ein anderes Mal ließ ich die volle Flasche zwischen meinen Knien, die sie eigentlich halten sollten, durchrutschen und verursachte so auf dem Boden eine übelriechende Überschwemmung. Auch das Tempo war nicht gerade atemberaubend: Für den gleichen Vorgang, der bei den erfahrenen Patienten höchstens fünf Minuten dauerte, brauchte ich in den ersten Tagen eine gute Viertelstunde. Die Ergo-Therapeutin hatte mir anfangs noch mit einigen Handgriffen assistiert, dann nur noch zugesehen und korrigierende Tipps gegeben und mich schließlich allein gelassen, als ich den komplexen Bewegungsablauf endlich einigermaßen automatisiert hatte. Na schön, ich war zwar noch langsam, aber ich schaffte es immerhin ohne Hilfe, und die Geschwindigkeit würde sich auch noch erhöhen, wenn ich nur fleißig übte. Außerdem hatte ich ja alle Zeit der Welt, sogar mehr, als mir lieb sein konnte.


Als der Primarius bei der nächsten Visite über meine neu erlernten Fertigkeiten informiert wurde und ich ihm und den Oberärzten gleich meine Geschicklichkeit demonstrieren konnte, war man sichtlich beeindruckt und schien mich nun mit anderen Augen zu betrachten. Ich hatte offensichtlich überzeugend bewiesen, dass es mir mit meiner Selbständigkeit sehr ernst war und dass doch mehr in mir steckte, als man mir zugetraut hatte. Ich verlangte auch, in der behindertengerechten Übungsküche arbeiten zu dürfen, da ich wenigstens die einfachsten und wichtigsten Handgriffe der Küchenarbeit neu erlernen wollte. Ich war ja vor meinem Unfall ein passabler Koch und Hausmann gewesen und hoffte nun, einen Teil meiner Erfahrung hier nutzen zu können. Schließlich waren meine Bemühungen so weit gediehen, dass ich meine Therapeutinnen und meine Zimmerkollegen zu einem zwar bescheidenen, dafür aber selbstgekochten Mittagsmenü einladen konnte, bei dem mir nur eine Praktikantin ein bisschen geholfen hatte.


Mit diesen Patienten, die als Frischverletzte gekommen waren und mit mir monatelang das Zimmer teilten, hatte ich die angenehmsten Nachbarn gefunden, die ich mir erhoffen konnte. Der eine war ein junger Krankenpfleger, der auf dem Weg zur Arbeit mit seinem Auto verunglückt war und eine komplette Lähmung von den Brustwirbeln abwärts davongetragen hatte. Obwohl feststand, dass er nie wieder gehen können würde, erschien er mir als einer der optimistischsten und lebenslustigsten Menschen, die ich jemals kennengelernt habe. Er war immer sehr sportlich gewesen, trainierte nun wieder mit vollem Einsatz, machte in erstaunlich kurzer Zeit beachtliche Fortschritte und hatte große Pläne für die Zukunft. Seine positive Haltung war mir stets ein Vorbild, und wir verstanden uns von Anfang an prächtig, unterstützten einander so gut es nur ging und spornten uns gegenseitig immer wieder zu neuen Leistungen an. Der andere, ein schon etwas älterer, gemütlicher Kärntner mit einem spitzbübischen Humor und gesegnetem Appetit, der sich in seiner kugelrunden Figur niedergeschlagen hatte, komplettierte unsere Zimmergemeinschaft. Er war beim Fall von einer Leiter mit einer inkompletten Verletzung im Lendenwirbelbereich noch relativ glimpflich davongekommen und konnte sich ziemlich bald aus dem Rollstuhl erheben und mit Krücken gehen, allerdings mit großer Mühe und unter starken Schmerzen. Da beide sehr selbständig waren und auch eine große Familie hinter sich hatten, konnten sie relativ oft nach Hause fahren und ermutigten auch mich, es wenigstens einmal zu versuchen.


Bei der Sozialberatung machte man mich nun auf die Möglichkeit aufmerksam, Betreuung durch Hauskrankenpflege in Anspruch zu nehmen. Ich erfuhr, dass alle ländlichen und städtischen Bezirke auf verschiedene Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz aufgeteilt waren, die mit Krankenschwestern und Pflegehelfern alte und pflegebedürftige Menschen in deren Wohnungen betreuten. Ich kontaktierte nun den für meinen Bezirk zuständigen Verein und erkundigte mich nach den Kosten, dem Angebot an Dienstleistungen und dem zeitlichen Rahmen, in dem ich diese Dienste beanspruchen konnte. Da sich die mir zugesagten Bedingungen mit meinen wichtigsten Bedürfnissen deckten, beschloss ich, wirklich einen Versuch zu wagen und beantragte eine Beurlaubung für ein Wochenende. Zuvor sollte noch das Team der Hauskrankenpflege in das Rehabilitationszentrum kommen und von der Ergo-Therapeutin im Umgang mit einem Querschnittgelähmten kurz eingeschult werden, da dieses Pflegepersonal bis dahin nur Erfahrung mit alten, kranken und gebrechlichen Patienten hatte und sich erst auf meine ganz spezifischen Probleme einstellen musste. Speziell der Transfer, der im Rehabilitationszentrum fast ausschließlich von den kräftigen Pflegern, in schwierigen Fällen sogar von zwei Personen durchgeführt wurde, musste nun von einer einzelnen Pflegeperson bewältigt werden, die fehlende Muskelkraft durch gezielte Technik auszugleichen hatte. Als ich sicher sein konnte, dass die PflegerInnen ihre Aufgabe bewältigen würden und ich mich ihrer Obhut anvertrauen konnte, beantragte ich meinen ersten Heimurlaub und vereinbarte die Termine, zu denen ich ihre Betreuung in Anspruch nehmen wollte. Ein Freund würde mich in seinem Auto nach Hause bringen und mit einer Treppenraupe, einem batteriebetriebenen Fahrzeug, auf dem man einen Rollstuhl montieren konnte, über die drei Stockwerke in meine Wohnung befördern. Verständlicherweise fieberte ich meiner Heimkehr entgegen und malte mir aus, wie ich den ersten Tag in meinen eigenen vier Wänden nach so langer Zeit erleben würde.
 
 
Als es endlich so weit war, musste ich mit sehr widersprüchlichen Gefühlen kämpfen: Einerseits Freude über das Wiedersehen mit der vertrauten Umgebung und die kurzfristige Rückgewinnung meiner Privatsphäre, andererseits Frustration und Ärger über viele kleine Probleme und Hindernisse, die durch die nun für mich unpraktisch gewordene Einrichtung verursacht wurden. So konnte ich mich beispielsweise nicht richtig an meinen Esstisch setzen, weil das als Mittelsäule konstruierte Tischbein meinem Rollstuhl im Wege war. Die Küche konnte ich wegen der hohen Türschwelle ohne Hilfe nicht erreichen, dem Kühlschrank nichts entnehmen und den Wasserhahn der Abwasch nicht aufdrehen. Im Wohnzimmer konnte ich zwar mit Hilfe der Fernbedienung das Fernsehgerät einschalten, aber weder an meine Stereoanlage noch an die meisten meiner Bücher und Schallplatten herankommen. Es hatte jedoch keinen Sinn, mir den Aufenthalt in meiner Wohnung durch Enttäuschung und Trauer selbst zu verderben, es galt vielmehr, die kostbaren Stunden sinnvoll zu nützen. Ich setzte mich an meinen Computer, da mein Schreibtisch zum Glück sehr günstig stand und alles gut erreichbar war, und versuchte zum ersten Mal nach meinem Unfall, die Tastatur und die Maus zu betätigen. Es war für mich ein großes Erfolgserlebnis, dass ich alle Funktionen wieder unter Kontrolle hatte, etwas langsamer zwar, aber das war nicht entscheidend. Da ich mich schon seit meiner Studienzeit mit Innenarchitektur beschäftigte, verfügte ich über das notwendige Wissen für den Umbau meiner Wohnung. Ich holte mir gleich den Grundriss auf den Bildschirm und begann, alle notwendigen Veränderungen auf der Basis meiner frustrierenden Erfahrungen sorgfältig zu planen. Einige Möbel brauchten nur umgestellt zu werden, von anderen würde ich mich trennen; besonders die Teppiche waren überflüssig und hinderlich geworden. Lichtschalter und Steckdosen waren zu verlegen, und mein schönes japanisches Futon-Bett musste durch ein modernes Pflegebett ersetzt werden. Dieses Bett war den herkömmlichen Krankenhausbetten in allen Belangen weit überlegen, da ich es mit einem eingebauten Motor über Drucktasten anheben und absenken und sowohl Kopf- als auch Fußende stufenlos verstellen konnte. Auch die Haltegriffe und Leisten, an denen ich mich festhalten und so leichter selbst zurechtrücken konnte, stellten für mich eine große Erleichterung dar. Später, als sich meine körperliche Verfassung deutlich gebessert hatte, ermöglichte mir der gezielte Einsatz der Elektronik sogar den Transfer aus dem Bett in den Rollstuhl ohne Hilfe. Da ich die ganze Nacht allein sein und nicht mehr in verschiedenen Positionen gelagert werden würde, bekam ich auch zur Dekubitus-Prophylaxe eine dreiteilige Luftmatratze, die nach dem gleichen Prinzip wie das Sitzkissen meines Rollstuhls funktioniert und aus unzähligen kleinen Luftkammern besteht, die sich dem Körper perfekt anpassen und bei richtiger Einstellung das Körpergewicht so verteilen, dass Wundliegen so gut wie unmöglich ist. Dass ich im Rehab-Zentrum doch einige Male kleine offene Stellen im Gesäßbereich bekommen hatte, lag offensichtlich nur an den viel zu steifen Leintüchern und den so genannten Durchzügen zwischen dem Leintuch und der Luftmatratze, welche deren Vorzüge weitgehend neutralisierten. Das erfuhr ich jedoch erst von der Heilbehelfsfirma, die mich mit allen nötigen Hilfmitteln versorgt. Das Pflegepersonal, das offensichtlich in gedankenloser Krankenhausroutine erstarrt war, hatte davon keine Ahnung gehabt und sogar mir die Schuld an meinen Hautproblemen zugeschoben und mir Vorwürfe gemacht. Nun, da ich zu Hause in meinem eigenen Bett auf weichen, dünnen Spannleintüchern lag, zeigte sich, dass ich sogar 12 Stunden lang ohne mehrmalige Lagerung auf dem Rücken liegen konnte, ohne jemals die kleinsten Hautprobleme zu bekommen. Das bedeutete für mich natürlich eine große Erleichterung, da man mich von mehreren Seiten gewarnt hatte und ich mir auch Sorgen gemacht hatte, wie ich wohl allein mit dieser neuen Situation zurechtkommen würde.


Das Badezimmer war noch relativ praktisch, ich konnte hier an die Wasserhähne herankommen und fand auch einen geeigneten Platz zum Katheterisieren. Langsam begann mein neues Heim Gestalt anzunehmen, und der Umbau würde gar nicht so teuer kommen, da ich nicht viel zusätzliches Material brauchte und mir Freunde ihre Hilfe bei der Arbeit angeboten hatten.
Meine Mutter konnte die Einkäufe erledigen und kochen, die Leute von der Hauskrankenpflege sollten viermal pro Tag kommen. Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich bei Dienstbeginn um etwa 7 Uhr morgens und als letzter Patient um etwa 7 Uhr abends betreut werden sollte und dass ich auch am frühen Nachmittag einige Stunden im Bett verbringen würde, da es für mich zu schmerzhaft und anstrengend gewesen wäre, den ganzen Tag im Rollstuhl zu sitzen. Selbst Paraplegiker, die in wesentlich besserer körperlicher Verfassung als ich waren, wussten solche Erholungspausen zu schätzen. Dieser Tagesablauf bedeutete, dass ich wie im Rehabilitationszentrum zirka 12 Stunden während der Nacht im Bett verbringen musste, allerdings zum ersten Mal ganz allein, ohne Zimmerkollegen und ohne Klingel, mit der ich innerhalb kurzer Zeit Hilfe rufen hätte können. Wie schön wäre es nun gewesen, eine Frau an meiner Seite zu haben, doch gerade das, was mir am Wichtigsten war und mein Leben wirklich positiv verändern könnte, würde mir vermutlich für immer verwehrt bleiben. Alles, was mir in der Dunkelheit blieb und mich mit dem Rest der Welt verband, war mein Telefon und die Fernbedienung meines Fernsehapparats.


„Wenn sonst nichts mehr läuft, dann läuft das Fernsehen“, dachte ich. Früher war ich oft bis gegen Mitternacht aufgeblieben und zu Konzerten, Vernissagen oder ins Kino gegangen oder hatte die halbe Nacht durchgetanzt. Natürlich beneidete ich alle gesunden Menschen, für die der Tag gerade erst richtig begann, wenn ich schon ins Bett gelegt wurde. Ich beneidete aber sogar alle Rollstuhlfahrer, die zwar nie wieder ihre Beine bewegen würden, dafür aber auch von der Taille abwärts nichts mehr spürten und daher fast unbegrenzt im Rollstuhl sitzen, arbeiten und „ausgehen“ konnten. Wenn sie dabei auch riskierten, sich wund zu sitzen, erschien mir das vergleichsweise als geringeres Übel, das sich mit einiger Vorsicht vermeiden ließ. Dass ich nur sehr selten einen Abend außer Haus verbringen konnte, lag einerseits daran, dass die Hauskrankenpflege spätestens um 20 h endete und ich daher private Hilfe brauchte, um ins Bett zu kommen. Andererseits war ich meistens um 19 h wegen meiner Schmerzen und Müdigkeit ohnehin schon froh, mich endlich ausruhen zu können. Wie viele Menschen verbrachten jedoch Abend für Abend freiwillig vor dem Fernsehgerät, anstatt mit ihrer Freizeit etwas Sinnvolleres anzufangen, wie oft wurde der Kreis der Familie zum Halbkreis um diesen elektronischen Hausaltar, Kommunikation zur Berieselung, Figuren aus Seifenopern zum Ersatz für Angehörige und Freunde. Wie gerne hätte ich wie andere Leute am Abend in gemütlicher Umgebung ein paar Gläser geleert. Nun, da in der Nacht kein Arzt mehr zum Katheterisieren kam, würde meine Blase am Morgen zum Platzen voll sein, so dass ich bereits am Nachmittag beim Trinken sehr zurückhaltend sein musste und in der Nacht großen Durst bekam. Einerseits sollte ich so viel wie nur möglich trinken, um meine Blase gründlich durchzuspülen, um so Infektionen vorzubeugen, anderseits konnte ich die Blase nur im Sitzen durch Katheterisieren entleeren, da ich im Liegen dazu nicht geschickt genug war, und eine überdehnte Blase war nicht nur wegen der Gefahr einer Rückstauung in die Niere gefährlich, sondern auch wegen des Drucks und der damit verbundenen Hitzewallungen und Schweißausbrüche sehr unangenehm. Es war also wichtig, Trinkdisziplin zu halten und jeden Morgen pünktlich aus dem Bett geholt zu werden. Derartige Überlegungen waren den Leuten von der Hauskrankenpflege neu, da sie es im Allgemeinen nur mit alten Menschen und deren speziellen Problemen zu tun hatten.


Nach meiner Rückkehr teilte man mir mit, dass eine Gruppe von verantwortlichen Personen mit mir über mein Leben nach meiner Entlassung sprechen würde, und dass dabei eine für alle akzeptable und praktikable Lösung gefunden werden sollte. An der Besprechung würden der Primarius, die Oberärzte, die Stationsschwester, meine Physio-Therapeutin, die Ergo-Therapeutin, die Sozialberaterin und die Hauspsychologin teilnehmen. Ich fühlte mich auf einmal in meine Schulzeit zurückversetzt, als ich mit weichen Knien vor der Reifeprüfungskommission gestanden war. Wie viele andere Prüfungen hatte ich seither überstanden, mit immer größerer Gelassenheit und weniger Mühe, doch hier ging es vielleicht um mehr als je zuvor, es ging um nicht weniger als mein Leben! Trotzdem blieb ich ruhig und kühl, legte die Planskizzen für meine Wohnungsadaptierung vor und erläuterte den Zeitplan meiner Hausbetreuung. Ich verwies auch auf meine Fertigkeiten beim Katheterisieren und Kochen sowie bei der Körperpflege. Es sei also durchaus zu verantworten, mich in häusliche Pflege zu entlassen. Man befragte mich über alle Aspekte des täglichen Lebens und wie ich mit ihnen zu Rande kommen wollte, ich konnte jedoch alle Einwände von verschiedensten Seiten durch meine überlegten Erklärungen entkräften und das Gremium schließlich von meiner Selbständigkeit und Überlebensfähigkeit überzeugen. Ich sollte noch einige Wochen in der Anstalt bleiben und während dieser Zeit noch einige kurze Probeaufenthalte in meiner Wohnung absolvieren und dabei auch die notwendigen Vorbereitungen und Veränderungen durchführen lassen.


Damit war ich einverstanden und beschloss, die mir verbleibende Zeit so gut wie möglich zu nützen. Ich bestellte einige neue Möbelstücke und Geräte, organisierte mir handwerkliche Hilfe und besprach mit den Leuten von der Hauskrankenpflege meine Bedürfnisse und meinen Tageszeitplan, da ich in meiner Lage möglichst wenig dem Zufall überlassen wollte. Dabei kamen mir die Gespräche mit den Rollstuhl-Veteranen zugute, die mir von ihren Problemen und ihren Tricks erzählt hatten. Es galt, alle potentiellen Schwierigkeiten und Gefahren vorauszusehen und auszuschalten, Vorkehrungen zu treffen und alle mir wichtigen Personen auf alles hinzuweisen, was mir schaden oder nützen konnte. Ich nahm zwar ohnehin an, dass jeder sein Möglichstes tun würde, um mir zu helfen und mir das Leben leichter zu machen, doch wusste ich auch, dass selbst bei gutem Willen aus reiner Gedankenlosigkeit oder Unwissenheit manches geschehen konnte, das mir das Leben unnötigerweise noch schwerer machte, als es ohnehin schon war. Der Anfang würde nämlich schwer werden, darüber konnte es keinen Zweifel geben. Ich wollte jedoch sowohl aus meinen eigenen als auch aus den fremden Fehlern lernen und nach und nach die nötigen Korrekturen vornehmen und so meinen Alltag mit der Zeit erträglicher und akzeptabler gestalten.
Mein nächster Heimurlaub ersparte es mir, die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel in einem Krankenhaus verbringen zu müssen. Trotzdem gab es für mich nicht viel zu feiern, und beim Auspacken meiner Geschenke erschien mir mein Leben wie ein geschmackloses und unbrauchbares Geschenk, das ich weder umtauschen, zurückweisen oder weiterschenken konnte und für das ich auch noch dankbar sein sollte. Zu Silvester wurde ich auf eine Party eingeladen, was mich zwar etwas aufmunterte, mir bei der Beobachtung der Tanzenden aber doch allzu schmerzlich meine Behinderung bewusst machte. Es tat jedoch gut, zu Mitternacht mit Glück- und Segenswünschen für das neue Jahr bedacht zu werden, die ich noch nie zuvor so sehr gebraucht hatte.


Schließlich war der große Tag der endgültigen Heimkehr gekommen. Der Abschied war kurz und schmerzlos, und zwei Männer vom Roten Kreuz brachten mich in einem Rettungswagen nach Hause, wo mich meine Mutter schon mit dem Mittagessen erwartete. In den ersten Tagen kam sie immer schon um 8 Uhr, um mir das Frühstück zu machen und blieb bis in den Nachmittag, um auch noch das Abendessen bereitzustellen, da ich zwar in die Küche hinein, aber nicht ohne Hilfe über die Schwelle zurück gekommen wäre. Deshalb ließ ich sie die Kaffeemaschine im Wohnzimmer so aufstellen, dass ich sie mü­helos bedienen konnte. Das Wasser holte ich mir aus dem Badezimmer, wo ich auch das Zähneputzen und Katheterisieren besorgte. Für das Frühstück ließ ich mir von einer Krankenpflegerin Brot aufschneiden und etwas aus dem Kühlschrank holen.
Damit war meine Mutter etwas entlastet und brauchte erst gegen 11 Uhr zu kommen. Auch bedeutete es für mich eine große Genugtuung, mir endlich wieder in meiner eigenen Wohnung selbst eine Mahlzeit, und sei es eine noch so bescheidene, zubereiten zu können. Nach einiger Zeit kam zu dem Filterautomaten noch ein Plattengrill, den ich hauptsächlich zum Toasten benutzte. Das früher so elegante und gemütliche Wohnzimmer bekam dadurch zwar eine sehr eigenwillige Note, doch waren für mich nun die funktionalen Aspekte wichtiger als die Ästhetik geworden. Als Morgenmuffel genoss ich es wirklich, endlich wieder allein und ungestört frühstücken zu können, dabei Zeitung zu lesen und Musik zu hören, ohne an irgendwelche Termine und Pflichten denken zu müssen. Langweilig würde es mir kaum werden, da ich mir kleine Hanteln besorgt hatte, mit denen ich täglich weitertrainieren wollte. Da ich nämlich in der Wohnung keine so weiten Strecken mit dem Rollstuhl zu bewältigen hatte, hoffte ich meine Armmuskulatur auf diese Weise in Form zu halten und vielleicht sogar noch weiter aufzubauen.
Mein Arzt begann nun auch mit der angekündigten Therapie, erstellte einen strikten Diätplan mit Lebensmitteln aus garantiert biologischem Anbau, gab mir homöopathische Präparate, Heilkräuter und Tees und akupunktierte mich nach einer Methode, die ihm ein chinesischer Meister gezeigt hatte. Nach einigen Wochen kam es plötzlich zu einer ersten deutlichen Reaktion auf diese Maßnahmen: Als ich eines Morgens erwachte, lag ich auf einem völlig durchnässten Leintuch, weil es während der Nacht zu einer spontanen Blasenentleerung gekommen war. Normalerweise ist ja Bettnässen nicht gerade ein Grund zur Freude, doch in meinem Falle bedeutete es tatsächlich einen signifikanten Fortschritt, der durch die unzähligen, sich über Monate hinziehenden elektrischen Blasenstimulationen nicht zustande gekommen war. Allerdings hatte es nicht zu einer vollständigen Entleerung gereicht, so dass ich weiterhin katheterisieren musste, wenn auch nicht mehr so oft wie zuvor. Das spontane Urinieren geschah auch nicht regelmäßig und zu den für mich angenehmsten Zeitpunkten und ließ kein logisches, systematisches Schema erkennen oder sich durch gezieltes Trinkverhalten steuern. Das bedeutete für mich, dass ich nun tagsüber immer auf der Hut zu sein hatte und in der Nacht eine Harnflasche im Bett haben musste.


Mein Arzt verbot mir auch, wie bisher Abführmittel zu nehmen, da sie seiner Meinung nach die homöopathische Behandlung störten und legte mir nahe, wochenlang nur mehr Rohkost zu mir zu nehmen und so meine Verdauung anzuregen. Wie erwartet bekam ich davon Durchfall, was schon für einen Nichtbehinderten keine besonders angenehme Sache ist. Wenn man sich jedoch wie ich nicht im „Fall des Falles“ sofort auf die Toilette setzen kann und erst nach Stunden trockengelegt und gesäubert wird, kann man seine Lage ohne Übertreibung nur noch als „beschissen“ bezeichnen. Daher weigerte ich mich, mit dieser Diät fortzufahren und wollte lieber die Nachteile der pharmazeutischen Präparate in Kauf nehmen. Hier traten die ersten Spannungen zwischen uns auf, da mir die diktatorische Bevormundung und die mangelnde Sensibilität und Rücksichtnahme meines Arztes trotz seiner Teilerfolge gegen den Strich gingen und allmählich mein Vertrauen in ihn erschütterten. Auch sein derbes Zupacken beim Durchbewegen meiner Gelenke empfand ich im Vergleich zu den vorsichtigen Übungen, die meine Therapeutin mit mir durchgeführt hatte, als äußerst unangenehm und nicht wirklich sachgerecht. Ich zweifelte zwar nicht an seinem Willen, mir nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen, doch bekam ich immer mehr das Gefühl, dass dieser medizinische Fundamentalist, dieser Doktor Eisenbart, in seinem übertriebenen Ehrgeiz über das Ziel hinausschoss und mich, was für mich als kritischen, eigenwilligen Individualisten noch schlimmer war, nicht mehr als mündigen Patienten, sondern schon eher wie ein Versuchskaninchen behandelte. Zudem waren als Reaktionen auf seine Akupunktur-Behandlung brennende Schmerzen in meinen Oberschenkeln aufgetreten, die mir das Sitzen oft bereits nach kurzer Zeit zur Qual machten. Auch einige plötzliche, ganz kurze Anfälle von hohem Fieber und Schüttelfrost, begleitet von starken Krämpfen, machten mir mein bis dahin ohnehin schon schwer und unangenehm gewesenes Leben zeitweise zur Hölle auf Erden und stürzten mich in tiefste Depressionen. Ich wurde gereizt und aggressiv, verlor jegliches Interesse an meiner Umgebung.
Zu allem Überfluss verstärkten sich nun auch noch die Hautprobleme, zu denen ich immer schon geneigt hatte. Mein ganzes Gesicht und meine Brust waren mit juckenden, unansehnlichen weißen Schuppen bedeckt, was mein Arzt nur als positives Anzeichen für meine Entgiftung bezeichnete, ich aber eher für psychosomatische Auswirkungen meiner mit Stress geladenen Situation hielt. Ich war völlig verzweifelt, da ich nun nicht nur schwach war und unter großen Schmerzen litt, sondern sogar vor mir selbst Ekel empfand, wenn ich in den Spiegel schaute. Mein ganzer Körper schien zusammenzubrechen, nichts an mir war mehr so, wie es sein sollte. Als mein Arzt auch noch von mir verlangte, ich solle die krampfunterdrückende Pumpe wieder herausoperieren lassen, da er sonst die Akupunktur-Therapie nicht fortsetzen würde, kam es zum offenen Bruch zwischen uns. Ich hatte monatelang alles über mich ergehen lassen, weil ich mir gerade von seinen unkonventionellen, extremen Methoden die Erfolge erhofft hatte, die mir die Schulmedizin nicht bieten konnte und die sie für unmöglich hielt. Er hatte zweifellos viel Zeit für mich geopfert und viel persönlichen Einsatz bewiesen, doch wollte ich mich nicht länger seinem psychischen Druck aussetzen und mich zu Dingen erpressen lassen, von denen ich nicht wirklich überzeugt war und von denen mir viele andere wohlmeinende, dem alternativen Gedankengut durchaus aufgeschlossene Menschen abrieten. Selbst wenn ich mit der Operation einverstanden gewesen wäre, hätte ich dazu niemals die Genehmigung durch die Chefärzte der Krankenkasse und der Unfallversicherung bekommen und sowohl sämtliche Kosten als auch das ganze Risiko dieses Eingriffs tragen müssen, was für mich eine untragbare Last bedeutet hätte.


Mein Arzt behauptete zwar, dass er mit Hilfe der Akupunktur nicht nur mein Nervensystem regenerieren und meine Muskelfunktionen verstärken könne, sondern auch die Spasmen ebenso gut unterbinden würde wie die elektronische Pumpe, die mit ihrem Metallgehäuse einen störenden Fremdkörper darstelle, konnte und wollte jedoch erwartungsgemäß für den Erfolg dieser Maßnahmen keine Garantie übernehmen. Trat jedoch die versprochene Heilung nicht ein, konnte ich aber meine Entscheidung nicht einfach rückgängig machen und mir die Pumpe wieder einsetzen lassen. Da ich mir dieses Risikos voll bewusst war, kam ich in einen schweren Gewissenskonflikt. Einerseits wollte ich mir nicht vorwerfen müssen, ich hätte aus reiner Wehleidigkeit und mangelnder Risikobereitschaft die vielleicht einzige Chance auf meine Wiederherstellung aufgegeben, die mir dieser fanatische, komische Kauz bot, den ich früher immer als amüsanten, unkonventionellen Gesprächspartner geschätzt hatte. Andererseits empfand ich die Abhängigkeit von ihm bereits unerträglich und wollte ihn eigentlich nur noch loswerden, wenn ich auch vor dieser endgültigen Entscheidung zurückschreckte. Es galt, mich um Alternativen umzusehen, da ich nicht auf einmal ohne ärztliche Betreuung dasitzen wollte, was auch einer völligen Resignation gleichgekommen wäre.


Ich fühlte mich sowohl körperlich als auch seelisch so elend, dass ich diesen Zustand weder akzeptieren konnte noch wollte. Auch gab es trotz meiner damaligen Verfassung so viele ermutigende Zeichen, die zumindest eine teilweise Verbesserung meiner Funktionen möglich erscheinen ließen. Ich war immer ein Kämpfer gewesen, der nicht so leicht aufgab, und wenn ich mich im Augenblick auch wie ein todkranker Greis fühlte, war ich doch noch viel zu jung, um so ein Leben zu führen. Ich würde schon noch beweisen, dass ich mich nicht unterkriegen ließ. Eigentlich hielt mich nicht mehr der Selbsterhaltungstrieb oder die Angst vor dem Nichts am Leben, sondern nur noch mein Trotz, mein Hass auf einen Menschen, der mir zuerst so große Hoffnungen gemacht und mich dann so unter Druck gesetzt hatte. Zuerst suchte ich mir einen neuen Hausarzt in meiner Wohngegend, der mich mit dem Nötigsten versorgte und auch ziemlich rasch meine Hautprobleme beseitigte. Dann engagierte ich einen befreundeten Therapeuten, der mich nach der Feldenkrais-Methode und mit Shiatsu-Massagen behandelte. Bei der Therapie nach Feldenkrais soll durch eine Reihe von bewusst ausgeführten, sanften Bewegungsabläufen das entdeckende Lernen gefördert werden, das für Kinder noch selbstverständlich ist.


Während ich früher fast alle Tätigkeiten eher achtlos und hastig ausgeführt hatte und auch noch stolz darauf gewesen war, möglichst viele Dinge gleichzeitig und so schnell es ging zu erledigen, war ich nun durch meine Behinderung gezwungen, jede Arbeit, jeden Handgriff langsam und konzentriert zu machen, wenn ich mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden sein wollte. Hatte ich früher wie ein Schachspieler immer schon mehrere Schritte vorausgedacht, so lebte ich nun entsprechend dem fernöstlichen Prinzip im „Hier und Jetzt“.
Auf den Rat meiner Freundin Nadja, die schon selbst in China gewesen war, begann ich auch regelmäßig Qi-Gong zu praktizieren, eine chinesische Energie-Übung, die durch harmonische Bewegungsfolgen in Verbindung mit Atemtechniken den inneren Energielos regeln und ausgleichen kann und unter anderem die Basis für die spektakulären Kung-Fu-Kampftechniken der Shaolin-Mönche bildet. Bei einem Qi-Gong-Seminar lernte ich auch einen chinesischen Meister kennen, der mir viele wertvolle Ratschläge gab und mich auf die erfolgreiche Behandlung von Querschnittlähmungen und ähnlich schweren Leiden mit Heilkräutern und Tees aus der traditionellen chinesischen Medizin aufmerksam machte. Während im Westen nur die Akupunktur als typisch chinesische Therapieform allgemein bekannt ist und sogar schon von vielen Schulmedizinern anerkannt und auch praktiziert wird, hat die Behandlung mit pflanzlichen und tierischen Naturpräparaten in China selbst einen mindestens ebenso hohen Stellenwert. Ich bekam von ihm die Adresse einer taiwanesischen Klinik, an der ein chinesischer Arzt seit Jahren Lähmungen aller Art mit Erfolg behandelt. Da er mit einem amerikanischen Assistenten zusammenarbeitet, fasste ich die wesentlichsten Fakten aus meinen Befunden auf Englisch zusammen, ergänzte sie durch die subjektive Beschreibung meiner aktuellen Verfassung und schickte sie nach Taiwan.
Mittlerweile begannen die Behandlung und meine Übungen langsam zu wirken, meine Lebensgeister erwachten wieder und meine Beweglichkeit machte kleine Fortschritte. Ich wurde auch wieder ruhiger und ausgeglichener, explodierte nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit und fand zu einer positiveren Lebenseinstellung zurück. War ich vorher zumeist nur noch stumm und unbeweglich dagesessen und hatte voll Schmerz und Wut durchs Fenster ins Leere gestarrt, wurde ich nun wieder aktiver, interessierter, versuchte meine Zeit sinnvoller zu verbringen. Ich wollte nun endlich all die Filme sehen, die meine Freunde für mich während meiner Abwesenheit aufgenommen hatten und ließ mir auch aus einer Bibliothek nach und nach die interessantesten Bücher besorgen, die im Laufe des Jahres neu erschienen waren. Ich ergriff auch endlich die Gelegenheit, meine Finanzen neu zu ordnen. Ich erteilte meiner Bank für alle regelmäßigen Zahlungen Daueraufträge und traf eine Vereinbarung, nach der ich alle sonstigen Buchungen und Überweisungen auf meinem Konto telefonisch mit einem Geheimcode abwickeln und kontrollieren konnte. Nötigenfalls war man auch bereit, mir für besondere Bedürfnisse einen Kundenbetreuer zu schicken.


Die Buchhaltung führte ich mit meinem Computer, den ich nur einige Wochen vor meinem Unfall gekauft hatte und der so lange ungenützt geblieben war. Jetzt erst konnte ich mich mit diesem Gerät wirklich vertraut machen, seine Möglichkeiten erforschen, mir seine effiziente Handhabung langsam erarbeiten. Ich merkte, wie ich immer schneller und sicherer wurde, bis ich beinahe den Status vor meinem Unfall erreicht hatte. Obwohl meine neu erlernte Handschrift schon recht geläufig und meiner früheren schon wieder sehr ähnlich geworden war, erledigte ich nun jede Art von Korrespondenz nur mehr mit der Textverarbeitung und begann meine umfangreiche Video-Sammlung in einer Datenbank zu archivieren. Das Telefon, früher für mich nur ein ungeliebter und unbefriedigender Ersatz für persönliche Gespräche, wurde nun in meinem neuen Leben zum wichtigsten, unersetzlichen Hilfsmittel, zur elektronischen Nabelschnur, die mich mit der für mich in so weite Ferne gerückten, aber lebensnotwen­digen Außenwelt verband. Um mir das Wählen zu erleichtern und um den Apparat problemlos transportieren zu können, besorgte ich mir ein Schnurlostelefon, mit dem sich mehrere Nummern einspeichern und mit einem Knopfdruck abrufen ließen. Den Computer verband ich über ein Modem mit der Telefonleitung und konnte nun damit faxen, per E-Mail kommunizieren und im Internet surfen. Wenn mir schon die reale Welt verschlossen war, wollte ich mich wenigstens in der virtuellen Welt bewegen können und mir das globale Dorf in mein Wohnzimmer holen.


Wie sehr die moderne Technik der Telekommunikation der konventionellen Korrespondenz überlegen ist, konnte ich erkennen, als erst nach ungefähr einem Monat endlich ein Antwortschreiben aus Taiwan eintraf. Der Amerikaner teilte mir mit, Dr. Lee, der chinesische Arzt, sei an meinem Fall sehr interessiert und gern bereit, mir zu helfen, wenn ich ihm noch detailliertere Angaben schickte und auch versprach, den Therapieverlauf genau zu dokumentieren. Der Brief enthielt auch eine Faxnummer, die unsere Kommunikation in Zukunft wesentlich beschleunigen würde. Nachdem ich die gewünschten Informationen übermittelt hatte, bekam ich ein Riesenpaket mit einer Monatsration von 30 Säckchen einer Mischung aus Kräutern, Rinden und Wurzeln, aus denen ein dickflüssiger Sud zu kochen war. Diese Flüssigkeit sollte ich dreimal täglich kalt trinken. Das Paket enthielt auch eine Studie über den Behandlungsverlauf mehrerer ähnlich gelagerter Fälle. Die Therapie könne sehr lange dauern, besonders bei einer so schweren Verletzung wie meiner, und ich musste auch mit einigen unangenehmen Nebenwirkungen rechnen, die allerdings ganz normale Reaktionen und ein Zeichen dafür darstellten, dass sich das Nervensystem regenerierte. Tatsächlich stellten sich kurz nach Beginn der Kur die angekündigten Symptome ein: Ich spürte auf einmal ein Kribbeln in den Fingern, brennende Nervenschmerzen zogen sich von der Wirbelsäule bis in die Waden, die Fußgelenke begannen manchmal unkontrolliert zu zucken, ich litt oft unter Schlaflosigkeit und tränenden Augen, die am Morgen ganz verklebt waren. Dafür wurden meine Arme und Finger immer kräftiger und beweglicher, ich konnte meinen Rumpf besser drehen und die Knie leichter beugen und strecken. Auch der Blasenschließmuskel öffnete sich nun häufiger, doch musste ich dafür manchmal ein Brennen in der Harnröhre in Kauf nehmen, was zu den unangenehmsten Begleiterscheinungen dieser Therapie gehörte. Ich erstattete nun monatlich Bericht über die Veränderungen in meinem Zustand und forderte die nächste Lieferung an, wobei ich die Medikamente, die bei einer Bestellung über eine Apotheke ein Vermögen gekostet hätten, großzügiger Weise gratis bekam und lediglich für die (allerdings recht hohen) Frachtspesen aufzukommen hatte.


Glücklicherweise musste ich mich nicht mit rein elektronischen Fernkontakten begnügen, sondern bekam auch realen, menschlichen Besuch. Mein Freund Rick, der seinen Arbeitsplatz in der Nähe meiner Wohnung hatte, kam nun oft während seiner Mittagspause oder nach Dienstschluss auf einen Sprung vorbei, um für mich Besorgungen zu machen oder mir auf andere Weise behilflich zu sein. Auch andere, die den Weg zu meinem unfreiwilligen Exil nicht so leicht gefunden hatten, sah ich jetzt wieder öfter. Hatte ich früher oft ganz spontan meine Freunde besucht oder mich mit ihnen in der Stadt getroffen, konnte ich nun meistens nur noch die Rolle des Gastgebers spielen. Manchmal wurde ich zwar zu Partys eingeladen und abgeholt, doch stellten der Transport über die drei Stockwerke in meinem Haus und die Stiegen der zumeist alten, liftlosen Häuser, in denen meine Freunde wohnten, sowie der Transfer zwischen Rollstuhl und Auto jedes Mal ein großes Problem dar und erforderten den Einsatz von viel Muskelkraft und Technik. Schon allein aus diesem Grund fasste ich nach einiger Zeit den Entschluss, mir eine andere Wohnung zu suchen, da ich seltener an die frische Luft oder in die Sonne kam als mancher Schwerverbrecher, der seine Strafe in einem Hochsicherheitstrakt absitzen musste. Ich hatte einfach keine Lust, den Rest meines Lebens in diesem Kerker zuzubringen, zu dem mein früher so geliebtes Heim für mich geworden war. Es würde jedoch nicht leicht werden, ein passendes, behindertengerecht gebautes oder zumindest leicht adaptierbares Objekt zu finden.


Das Problem bestand darin, dass es einfach viel zu wenige freie Behindertenwohnungen gab, weil die meisten Bauherren und Architekten noch immer völlig ahnungslos und unsensibel an den Bedürfnissen von Körperbehinderten vorbeiplanen. Außerdem ist der Wohnungsmarkt mittlerweile von den vielen, sich krebsartig ausbreitenden Immobilienmaklern, die unverschämte Provisionen für inadäquate Leistungen fordern, völlig ruiniert, der freie, private Markt beinahe zur Gänze ausgetrocknet. Es ist mir unverständlich, warum der Staat, der sich ja auch sonst gerne in alles einmischt und alle Bereiche unseres Lebens reglementieren will, tatenlos zusieht, wie ein vorrangi­ges menschliches Grundbedürfnis zum Objekt profitgieriger Geschäftemacher verkommt, anstatt die gleiche, so überaus wichtige Dienstleistung zum Staatsmonopol zu machen und seinen Bürgern gegen eine angemessene Gebühr zur Verfügung zu stellen, die wenigstens die zusätzlichen Personalkosten abdecken sollte. Schließlich stellte dann auch noch der eigentliche Grund für die Suche, nämlich die Lage der alten Wohnung, ein zusätzliches Hindernis bei der Besichtigung der wenigen überhaupt in Frage kommenden Wohnungen dar, die nach endlosem Durchblättern von Annoncen und stundenlangem Telefonieren übrigblieben. So zog sich die Suche über viele Monate dahin und kostete mich viel Zeit und Mühe, ohne ein akzeptables Ergebnis zu bringen. Als ich die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, las ich eher zufällig ein vielversprechendes Inserat eines privaten Vermieters. Bei der Besichtigung zeigte sich, dass der Zugang zur Wohnung zwar nicht völlig behindertengerecht war, aber im­merhin Platz für den Einbau einer Hebebühne bot, mit der sich die wenigen Stufen überwinden ließen. Auch die Türen waren breit genug, und eine Terrasse mit Garten für mich allein war recht verlockend und rechtfertigte für mich gerade noch die nicht gerade niedrige Miete. Daher entschloss ich mich relativ schnell für die Wohnung und organisierte alles für die nötigen Installationen und den Umzug.


Eine Übersiedlung bedeutet schon großen Stress, wenn man selbst zupacken und alles leichter kontrollieren kann. Ist man dabei jedoch ausschließlich auf andere Leute angewiesen, wird alles noch komplizierter und chaotischer, und dass dabei einiges kaputt- oder verlorengeht oder nicht am idealen Platz landet, ist beinahe selbstverständlich und muss eben fürs erste hingenommen und nach und nach korrigiert werden. Beim Siedeln wurde mir auch deutlich bewusst, wie viel überflüssiger Ballast sich im Laufe meines Lebens angesammelt hatte, den ich schon jahrelang nicht mehr benutzte und der nun auch für mich zum größten Teil unerreichbar in irgendwelchen Regalen und Kästen verstaubte. Beschränkung auf das Wesentliche und Notwendige, wozu ich während der Rehabilitation gezwungen gewesen war, erschien mir nun als das vernünftigste Lebensprinzip. Wie viel Kleidung benötigt ein Mensch, der nur noch selten am öffentlichen Leben teilhaben kann, von wie vielen Tellern kann er essen, aus wie vielen Gläsern trinken? In meiner Situation hatte es wenig Sinn, mich mit materiellem Besitz zu belasten, der nur Platz wegnahm und im Weg stand. Deshalb verkaufte ich einige Möbel, verschenkte Bücher, Kleidungsstücke und Geräte und fühlte mich dabei richtiggehend erleichtert. Die Küche und das Bad waren für meine Bedürfnisse nicht ideal eingerichtet, doch problemlos erreichbar und mit relativ wenig Aufwand umzubauen. Auch hier verdankte ich dem Umstand, dass ich bei einem Arbeitsunfall verletzt worden war, die Übernahme sämtlicher Kosten durch die Unfallversicherung. Ich bekam auch technische Hilfsmittel wie eine lange Greifzange, mit der ich Gegenstände vom Boden aufheben oder aus einem unerreichbaren Winkel herausziehen konnte, einen speziellen Glas- und Dosenöffner und einen Schlüsselhalter, der mir das Auf- und Zusperren erleichterte.
Sobald die Küche meinen Bedürfnissen angepasst war, konnte ich wieder als Koch aktiv werden und mir wenigstens selbst einfache Mahlzeiten zubereiten. Ich hatte einmal eine Woche lang einen Essenszustelldienst ausprobiert, war aber wegen der schlechten Qualität der viel zu teuren Speisen gleich wieder davon abgekommen. Außerdem hatte ich nach wie vor den Ehrgeiz, mich nach Möglichkeit selbst zu versorgen. Da es mir keinen Spaß machte, meistens allein essen zu müssen, hatte ich keinen besonders großen Appetit; ich wollte mich auch nicht wie manche andere Rollstuhlfahrer aus reiner Langeweile und Frustration vollstopfen oder meinen Kummer in Alkohol ertränken. Wenn man so schwach und unbeholfen war und beim Transfer nur wenig mithelfen konnte, durfte man sich meiner Meinung nach kein Kilo Übergewicht erlauben, schon allein aus Rücksicht auf die Helfer, abgesehen von gesundheitlichen und ästhetischen Gründen. Außerdem fühlte ich mich trotz meines Idealgewichts von knapp 70 Kilo ohnehin schon wie ein gestrandeter Wal.


Der Einbau der Hebebühne verzögerte sich leider aus verschiedenen Gründen, auf die ich keinen Einfluss hatte, um mehrere Monate, aber schließlich war ich dann eines Tages, gerade noch in der Mitte des ohnehin viel zu kurzen Sommers, endlich in der Lage, ohne Hilfe ganz allein das Haus zu verlassen und meine nähere Umgebung zu erkunden. Mittlerweile hatte ich nämlich von der Unfallversicherung wegen der Schwere meiner Behinderung auch einen batteriebetriebenen Spezialrollstuhl bekommen, der nicht nur größere Strecken und leichte Steigungen in beachtlichem Tempo überwindet, sondern mich sogar mittels einer Hydraulik in eine stehende Position bringen kann, wenn ich richtig angeschnallt bin. Damit kann ich Gegenstände von höheren Regalbrettern oder aus dem Eisfach des Kühlschranks holen, Fenster öffnen und auch meinen Kreislauf trainieren. Ein weiterer, sogar besonders wichtiger Vorteil des neuen Rollstuhls war auch, dass ich damit meine ständig abgewinkelten Beine ausstrecken und so die Muskulatur entspannen konnte. Zudem sollte sich später zei­gen, dass sich die Aufstehvorrichtung sehr gut für mein Training zur Kräftigung der Beinmuskulatur benützen ließ. Auch die Belastung der Füße ist sicherlich als effiziente Spitzfuß-Prophylaxe zu betrachten.


Bei meinen Ausfahrten kommt mir das gut ausgebaute System an Radwegen zu­gute, auf denen ich gefahrlos die wichtigsten Punkte der Stadt erreichen kann. Bei weiter entfernten Zielen und schlechtem Wetter muss ich ein Behindertentaxi in Anspruch nehmen (allerdings hat man in meiner Stadt nur Anspruch auf 6 Gratisfahrten pro Monat), in das ich über eine Rampe mit dem Rollstuhl hineinfahren kann. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind nämlich zumeist nicht rollstuhlgerecht, und die Verkehrsbetriebe erklärten mir auf meine Anfrage nach Fahrplänen mit verlässlichen Zeitangaben der für mich benutzbaren Busse und Straßenbahnen, diese würden jeden Tag anders eingeteilt, ich müsse mich eben vor jeder Fahrt telefonisch erkundigen oder mich auf mein Glück verlassen. Es gäbe ja ohnehin in der Stadt nur 4 oder 5 Behinderte, die öffentliche Verkehrsmittel benutzten. Auf diese unbefriedigende und dumme Antwort konnte ich nur erwidern, dass man bei den Verkehrsbetrieben offenbar Ursache und Wirkung verwechsle. Bei einem so schlechten Service sei es nämlich nicht verwunderlich, dass nur so wenige Rollstuhlfahrer Busse und Straßenbahnen benutzten. Immerhin hatten sich meine Reichweite und mein Aktionsradius durch den neuen Rollstuhl und die Rampe schlagartig vergrößert, meine Selbständigkeit machte entscheidende Fortschritte. Endlich konnte ich in den nahegelegenen Park fahren, um dort die Sonne zu genießen, mir Bücher am Eingang der Bibliothek abholen und Nachmittagsvorstellungen in den wenigen Kinos be­suchen, die behindertenfreundlich gebaut waren.


Überhaupt richtete ich nun bei meinen Fahrten die Aufmerksamkeit in erster Linie darauf, ob ich ein Gebäude oder Lokal betreten konnte oder nicht, ein Beispiel dafür, wie geänderte Bedürfnisse eine geänderte Wahrnehmung erzeugen. Kleine Freuden wie eine Tüte Eis oder ein Stück Pizza, die ich früher als Selbstverständlichkeit gewissermaßen en passant verschlungen hatte, wurden nun zum Hochgenuss, den ich wahrscheinlich zum ersten Mal bewusst auskostete. Es bedeutete mir auch unsagbar viel, zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder selbst einkaufen zu können, spontan genau die von mir gewünschten Waren mit eigenen Händen aus dem Regal zu holen und an der Kasse persönlich mit meinem Geld zu bezahlen. Das mag banal klingen, doch wenn man über ein Jahr lang nur auf das angewiesen ist, was einem andere Leute ins Haus bringen, wird selbst ein kleiner Einkauf in einem Supermarkt zum Erfolgserlebnis.


Leider gab es bald auch mit der Hebebühne Probleme, die allerdings nicht technischer Natur waren, sondern durch die Gedankenlosigkeit und Schlamperei der Angestellten der Städtischen Müllabfuhr verursacht wurden. Um von der Hebebühne über eine Rampe ins Freie fahren zu können, müssten die bis dahin in dem Vorhaus nebeneinander aufgestellten Müllbehälter in die Ecken verbannt werden, der Platz gegenüber der Rampe mit einem großen, gut lesbaren Plakat gekennzeichnet. Trotzdem werden immer wieder - trotz telefonischer und brieflicher Beschwerden - Mistkübel genau dorthin gestellt, wo sie mir den Weg versperren. Man erwartet ja von Müllmännern weder besonders große Intelligenz noch Sensibilität, doch sollten sie meiner Meinung nach als Angestellte einer öffentlichen Institution doch wenigstens lesen können und imstande sein, Gegenstände an denselben Platz zurückzustellen, von dem sie sie zuvor entfernt haben. Ein anderes Hindernis, das mich in meiner Bewegungsfreiheit einschränkte, tauchte auf, als die Hausverwaltung – anscheinend auf Betreiben einiger anderer Mieter – am Haustor einen Türschließer anbringen ließ, weil es immer wieder offen stand. Mit Hilfe meines Elektro-Rollstuhls schaffte ich es zwar gerade noch, das Tor von innen aufzudrücken und mich so irgendwie hinaus zu quetschen, ich war jedoch zu schwach, die Türe von außen aufzuziehen und ohne Hilfe wieder ins Haus zu gelangen. Erst nach längeren Debatten und Interventionen von behördlicher Seite war man bereit, den äußerst streng eingestellten Türschließer durch eine automatische Anlage zu ersetzen, mit der auch ich zurechtkam. Wieder einmal bestätigte sich für mich der Ausspruch eines anderen Querschnittgelähmten, dass Rollstuhlfahrer nicht behindert sind, aber sehr oft behindert werden .


Vor meinem Unfall war ich, wie schon an anderer Stelle erwähnt, nicht gerade von Sport begeistert gewesen, weder aktiv noch passiv, doch habe ich mich seit meinem zehnten Lebensjahr immerhin für Fußball interessiert und in all den Jahren meiner Lieblingsmannschaft in guten und schlechten Zeiten die Treue gehalten. Nun stand sie zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte, noch dazu mit großem Vorsprung,, vor dem Meistertitel, und ich hatte die Möglichkeit, im schönen neuen Stadion auf einem speziell für Rollstuhlfahrer reservierten Platz in der ersten Reihe diesen Triumph mitzuerleben. Die Ränge waren bis auf den letzten Platz gefüllt, überall wurden schwarzweiße Fahnen geschwenkt, und es herrschte eine echte Volksfest-Stimmung, der ich mich nicht entziehen konnte oder wollte und die mich für eine Weile mein sonst doch recht trostloses Leben vergessen ließ. Als nach dem dritten Tor der Hausherren Jubel aufbrandete, Tausende die neue Hymne „Steht auf für den SK Sturm!“ anstimmten und sich auch wirklich zu einer stehenden Ovation erhoben, war ich als einziger nicht dazu fähig. Hatte ich gerade noch mit den anderen gejubelt, so schossen mir nun Tränen der Verzweiflung und Frustration in die Augen. Wieder einmal war ich ausgeschlossen, wieder einmal war ich mit der Nase auf meine Grenzen gestoßen worden, wieder einmal fühlte ich mich, trotz der vielen Menschen rund um mich, unsäglich einsam.


So sehr ich den (ohnehin nicht sehr „großen“) Sommer und den relativ milden Herbst genossen hatte, die mir wenigstens ein bisschen Freiheit, Luft und Wärme geschenkt hatten, so sehr hasste und fürchtete ich den Winter, der mir immer nur als notwendiges und unvermeidbares Übel erschienen war. Wenn Shakespeare seinen Richard III. vom „Winter meines Missvergnügens“ sprechen ließ, konnte ich das nur zu gut ver­ste­hen. Für Wintersport hatte ich nie etwas übrig gehabt, die eisige Kälte unserer Breiten immer nur als große Belastung an­gesehen. Vor allem im Winter hatte es mich immer in den sonni­gen Süden gezogen, nun blieben mir nur innerliche Wanderungen durch sentimentale Erinnerungen, Ängste und Enttäuschungen, wie sie Schubert in seiner Winterreise („nun ist die Welt so trübe...“) empfunden haben mag.


Oft hatte ich mit dem Gedanken gespielt, eines Tages meine Heimat für immer zu verlassen und mich in einem Teil der Welt niederzulassen, wo man nicht die Hälfte des Jahres heizen und schwere, unbequeme Kleider tragen musste. Da ich weder eine Familie noch eine feste Anstellung hatte und finanziell gut abgesichert war, hätten sich diese Pläne zweifellos verwirklichen lassen; meine Sprachkenntnisse hätten mir überdies die Integration wesentlich erleichtert. Vielleicht hatte ich es nicht übers Herz gebracht, meine Mutter ganz allein zurückzulassen und deshalb dieses Vorhaben so lange aufgeschoben, bis es für mich zu spät war und ich absurderweise auf die Hilfe meiner Mutter angewiesen war. Es hatte sich wieder einmal gezeigt, dass es keinen Sinn hat, die Erfüllung seiner Träume aufzuschieben, weil man sonst „vom Leben bestraft“ wird. Jedenfalls beschlich mich oft das deprimierende Gefühl, in meinem Leben alle wesentlichen Dinge falsch gemacht zu haben und keine Chance für eine Korrektur meiner Fehler zu bekom­men. Überhaupt drückte der Mangel an Sonnenlicht auf meine Stimmung, und die Kälte machte mir bei jeder Ausfahrt zu schaffen. Wegen meiner Durchblutungsstörungen wurden meine Hände schnell steif und kalt, meine Muskeln verkrampften sich noch stärker, und auch meine Nervenschmerzen steigerten sich oft bis zur Unerträglichkeit. Auch wegen der schneebedeckten Gehsteige und Straßen war an Ausfahrten mit dem Rollstuhl bald überhaupt nicht mehr zu denken, ich war wieder für Monate in meinen eigenen vier Wänden gefangen.


Abgesehen von den hohen Mietkosten hatte meine neue Wohnung bei all ihren Vorteilen für mich einen großen Fehler: Sie war keine geräumige, großzügig angelegte Altbauwohnung mit hohen Räumen und breiten Flügeltüren, sie hatte einfach nicht den Charme und die Atmosphäre meiner alten Wohnung, darüber konnte selbst die schönste Einrichtung nicht hinwegtäuschen. Ich schaffte es seit meinem Unfall auch nicht mehr, meine Wohnung wie früher in Ordnung zu halten. Während sie sonst immer aufgeräumt und auch für unerwarteten Besuch präsentabel gewesen war, lagen nun ständig Dinge umher, die ich nicht nach Gebrauch sofort verstauen konnte. In gewisser Hinsicht symbolisierte das Chaos in meiner Wohnung auch den Zusammenbruch meines bis dahin so geordneten und gut organisierten Lebens. Ich vermisste auch die schnörkellose Klarheit meines japanischen Zimmers, das meiner geradlinigen und pragmatischen Denkweise so sehr entsprach, nun aber meinen körperlichen Bedürfnissen nicht mehr gerecht wurde.


Leider sind alte Häuser im allgemeinen nicht besonders praktisch, schon allein die schweren, schmalen Haustore stellen für einen Rollstuhlfahrer in der Regel ein unüberwindliches Hindernis dar, ganz zu schweigen von den fast ausnahmslos vorhandenen Portalstufen. Echte Parterrewohnungen haben Seltenheitswert, und Aufzüge gibt es so gut wie nie. Jedenfalls fand ich es äußerst frustrierend, dass die allerschönsten Wohnungen, die ich mir zweifellos hätte leisten können, allein wegen ihrer Lage für mich unerreichbar blieben. Ich nahm mir trotzdem vor, mich nicht mit dieser Situation abzufinden und mir bei der ersten sich bietenden Gelegenheit eine Wohnung zu suchen, die meinen ästhetischen Ansprüchen mehr entsprach. Da ich die neue Wohnung nun leicht verlassen konnte, würde auch die Besichtigung anderer Wohnungen kein so großes Problem mehr darstellen. Allerdings wollte ich nichts überstürzen und war durchaus bereit, mir für die Suche diesmal, wenn nötig, auch mehrere Jahre Zeit zu nehmen. Bis dahin würde ich das Beste aus meiner Lage machen und alles möglichst praktisch einrichten. Sobald auch noch das Badezimmer fertig war, würde ich bei der Körperpflege weniger auf die Krankenschwestern angewiesen sein, die mich bis dahin immer nur im Bett gewaschen hatten.


Zwischen den vereinbarten Terminen bin ich für etwa 4 Stunden auf mich allein gestellt und muss ohne die Hilfsleistungen auskommen, die größere Kraft und Geschicklichkeit erfordern. Von meiner achtzigjährigen Mutter, die mich ungefähr jeden dritten Tag gegen Mittag besucht, kann ich naturgemäß in dieser Hinsicht nicht viel erwarten. Es bedeutet schon eine gewisse Entlastung, dass sie manche Einkäufe erledigt, die Wohnung sauber hält und sich um die Wäsche kümmert. Schon als ich noch gesund war, hatte sie immer dazu geneigt, mich zu „bemuttern“, besonders wenn ich allein lebte. Ich lasse mich grundsätzlich nicht gern bedienen (so waren mir z. B. gerade Selbstbedienungsrestaurants immer besonders angenehm und sympathisch gewesen), weil niemand aus reiner Bequemlichkeit und Überheblichkeit anderen Menschen „niedere“ Arbeiten aufhalsen sollte und weil es andererseits auch leicht zur Abhängigkeit und zum Verlust der Freiheit und Selbständigkeit kommen kann. Für mich war schon immer klar gewesen, dass auch „ein ganzer Mann halbe-halbe machen“ oder sich den Haushalt allein führen kann, ohne dazu von einer übereifrigen feministischen Frauenministerin gezwungen zu werden. Deshalb hatte ich ihre Angebote, mir im Haushalt zu helfen, stets entschieden abgelehnt. Natürlich war ich für vieles, was sie für mich tat, ehrlich dankbar und wusste auch nur zu gut, dass ich mich auf keinen anderen Menschen so verlassen konnte. Es war mir auch klar, dass mein ohnehin schon schweres Leben noch schwerer sein würde, wenn sie eines Tages selbst Pflege brauchte und mir nicht mehr helfen konnte. Manchmal, wenn sie nach getaner Arbeit im Lehnstuhl beim Fernsehen einschlief, fühlte ich, dass sie mir trotz allem fehlen würde, wenn sie einmal nicht mehr lebte. Um ihre Kräfte zu schonen, aber auch um mir nichts vorhalten lassen zu müssen, bemühte ich mich auch jetzt, weitgehend ohne ihre Hilfe auszukommen. Das Problem mit allzu hilfsbereiten und selbstlosen Menschen, vor allem mit Müttern, die ihre Fürsorge ganz auf ihren einzigen Sohn konzentrieren, ist nur, dass sie dafür Dankbarkeit und Ergebenheit erwarten und daraus das Recht auf Einmischung und Bevormundung ableiten. Wenn man nichts dabei findet, einerseits den Pascha zu spielen und sich verwöhnen zu lassen und dafür unter dem Pantoffel zu stehen, mag das ja ganz angenehm sein; hat man jedoch wie ich ein besonders großes Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit, kann Mutterliebe zu einer seelischen Belastung werden. Darum empfand ich es nun als besonders perfide Ironie des Schicksals, auf einmal zum Muttersöhnchen und damit wenigstens in meinen eigenen Augen zur Witzfigur geworden zu sein. Welcher „normale“, gesunde Mann in meinem Alter würde wohl freiwillig so viel Zeit mit seiner Mutter verbringen, sie so oft in seiner Nähe haben wollen? Ob es mir passte oder nicht, ich war in körperlicher Hinsicht wieder wie ein hilfloses Kind, das in vielen Dingen auf die Mutter angewiesen war und sich ihrem Einfluss nicht mehr so leicht entziehen konnte.


Im Vergleich dazu fiel es mir relativ leicht, Hilfe von Freunden oder gar von Fremden anzunehmen, weil daran keine Bedingungen oder Abhängigkeiten geknüpft waren. Besonders dankbar war ich für alle Arbeiten, die meine Wohnung praktischer und damit mich selbständiger machten. Wie bei der Entwicklungshilfe ist nämlich auch für Behinderte die Unterstützung am wertvollsten, die es ihnen ermöglicht, in Zukunft mit weniger oder gar ohne Hilfe auszukommen. Zum Glück gab es nach wie vor einige wirklich treue Freunde und Freundinnen, die mich besuchten und mir halfen, mich zu sich einluden oder zu Veranstaltungen mitnahmen, doch musste ich mit Bedauern und Enttäuschung feststellen, dass die Leute im Rehabilitationszentrum zumindest in einem Punkt recht gehabt hatten: Nach und nach zogen sich manche, die ich für verlässliche Freunde gehalten hatte, von mir zurück, besuchten mich immer seltener oder gar nicht mehr, riefen nicht einmal an und schienen mich endgültig abgeschrieben zu haben.


Mir war klar, dass mit der Zeit mein Schicksal den Reiz der sensationellen Neuigkeit verloren hatte und die erste Erschütterung über mein Unglück allmählich der Gewöhnung oder gar Gleichgültigkeit weichen musste. Jeder hatte ja seine eigenen Sorgen, seine Arbeit und seine Familie, und außerdem schien ich ja mittlerweile mit meinem Leben immer besser zurechtzukommen, so dass ich offensichtlich nicht mehr so viel Aufmerksamkeit und Zuwendung benötigte wie am Anfang. Anscheinend konnte sich kaum jemand vorstellen, dass ich mich subjektiv nun oft sogar viel schlechter fühlte und mehr unter Langeweile und Einsamkeit litt als je zuvor. War das Wetter schön, verbrachte man seine kostbare Freizeit wohl lieber in der freien Natur als bei einem Krankenbesuch. War es kalt und regnerisch, blieb man lieber in den eigenen vier Wänden und verkroch sich hinter dem Ofen. Mancher mochte auch die Gesellschaft gesunder, „pflegeleichter“ Personen der eines Kranken und Behinderten vorziehen, von dem kein großer Unterhaltungswert zu erwarten war. In einer Zeit, wo die Frage „Wie geht´s?“ zur sinnentleerten Floskel verkommen ist, auf die man nur die reflexartige Antwort „Danke, gut“ erwartet, kann die bloße Erwähnung von Schmerzen, Ängsten und Frustrationen doch sehr leicht Irritation hervorrufen. Natürlich war mir klar, dass ich durch ständiges Jammern und Klagen auch die treuesten Freunde früher oder später vertreiben würde, und war daher bestrebt, eher meine optimistische Seite zu zeigen, meine Fortschritte und Pläne darzustellen und meine Selbständigkeit zu beweisen. Manche Besucher glaubten nämlich, mir jeden Handgriff abnehmen zu müssen und getrauten sich auch kaum mein Angebot anzunehmen, wenn ich ihnen Tee oder Kaffee aufwarten wollte wie jeder andere Gastgeber und so wie ich es vor meinem Unfall immer getan hatte.


Ich war auch angenehm überrascht, wenn ich im­mer wieder Briefe, Anrufe und sogar Besuche von Menschen bekam, die nicht in meiner Stadt, ja nicht einmal in Österreich lebten und von Beruf und Familie mindestens ebenso stark in Anspruch genommen wurden. Glücklicherweise lernte ich auch neue Leute kennen, was in meiner Situation gar nicht so leicht war, und manche Beziehungen, die vorher nicht so intensiv gewesen waren, entwickelten sich zu wirklich wertvollen Freundschaften. Trotzdem beschränkte sich der überwiegende Teil meiner sozialen Kontakte (außer den Besuchen meiner Mutter) auf Leute, die mich aus beruflichen Gründen aufsuchten. Wie viele Abende verbrachte ich allein mit meinen Büchern und meiner Musik, mit meinen „alten Meistern“, die immer für mich da sein würden, wenn sonst niemand Zeit für mich hatte, wie oft war ich schon froh, eine menschliche Stimme aus dem Radio zu hören, wenn sie mir auch natürlich nicht die physische Anwesenheit eines lebenden Menschen ersetzen konnte.


„Music is your only friend, until the end, until the end“, diese von Jim Morrison mit beschwörender Grabesstimme gesungenen Zeilen, die mir immer schon unter die Haut gegangen waren, hatten nun für mich eine neue, persönliche Bedeutung bekommen. Würde ich nicht in Österreich, sondern in einem so genannten Entwicklungsland leben, müsste ich zwar auf die neuesten technischen Hilfsmittel, durchorganisierte Hilfsdienste und die finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Mitteln verzichten, wäre dafür aber wahrscheinlich im Schoße einer Großfamilie und der ganzen Nachbarschaft gut aufgehoben, während ich in meiner neuen Wohnung selbst nach einem vollen Jahr erst einige der anderen Hausbewohner überhaupt zu Gesicht bekommen hatte und nicht einmal dem Namen nach kannte.


In gewisser Hinsicht fand ich bezahlte Hilfsdienste wie die Hauskrankenpflege ganz angenehm: Ich konnte den Zeitpunkt bestimmen und Ansprüche stellen und musste vor allem nicht befürchten, jemand auszunützen. Viermal am Tag kamen Krankenschwestern und PflegehelferInnen zu mir, um mich zu waschen, an- und auszuziehen und mir vor allem beim Transfer zwischen Rollstuhl und Bett zu helfen.
Bei dem Verein, der für meinen Bezirk zuständig war, gab es viele Angestellte, die noch dazu laufend durch neue ersetzt wurden und die mich in unregelmäßigen Abständen zu den verschiedenen Tageszeiten aufsuchten. Meistens dauerten diese Besuche etwa eine Viertelstunde, während der alles Notwendige erledigt wurde. Natürlich macht es einen großen Unterschied, ob man in einer Anstalt oder in der „offenen“ Pflege betreut wird: Hat man sich dort als Patient dem Hausgebrauch und dem ganzen System unterzuordnen und anzupassen, so ist man als „Hausherr“ und zahlender Kunde doch in einer besseren Position, wenn man auch natürlich niemanden herumkommandieren und schikanieren will. Überhaupt bin ich der Meinung, dass diese Form der Betreuung noch stärker gefördert und ausgeweitet werden sollte, da sie auch sonst viele Vorteile bietet. Wie viele alte Menschen, die zumindest körperlich in weitaus besserer Verfassung als ich sind, müssten nicht aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen und in unpersönliche und teure Pflegeheime abgeschoben werden, wenn sie wie ich Hauskrankenpflege in Anspruch nehmen könnten. So lange jemand noch in der Lage ist, das Bett ohne Hilfe zu verlassen und die Toilette zu benutzen, ist für mich nämlich nicht einzusehen, warum ein wenig Hilfe im Haushalt nicht ausreichen sollte, weiterhin ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden zu führen anstatt sich in einem Heim gehen zu lassen und dort seelisch, geistig und körperlich oft in erschreckend kurzer Zeit zu verfallen..


Die meisten meiner Betreuerinnen bemühten sich wirklich redlich, ihre anstrengende und verantwortungsvolle Arbeit gewissenhaft und aufmerksam zu erledigen. Einige von ihnen, die offensichtlich den falschen Beruf gewählt hatten und auch bei ihren Kolleginnen wegen ihrer schlampigen Arbeitsweise nicht gerade beliebt waren, schienen jedoch ihre Arbeit nur als lästige Pflicht zu betrachten, die sie so schnell wie möglich hinter sich bringen wollten. So konnte es vorkommen, dass in der Hast vergessen wurde, mir die Harnflasche ins Bett zu geben oder das Licht im Wohnzimmer abzuschalten, das dann die ganze Nacht gebrannt hätte, wäre nicht eine in der Nähe wohnende Freundin zu mir gekommen. Es geschah auch einige Male, dass man mich auf dem Dienstplan ganz einfach übersah oder vergaß und ich dann erst mit großer Verspätung aus dem Bett geholt oder ins Bett gelegt wurde, nachdem ich durch endloses Telefonieren Hilfe organisieren konnte, weil das Büro nicht immer besetzt war und ich nur ein Tonband zu hören bekam. Einmal war es besonders schlimm, als durch eine Verkettung unglücklicher Umstände eine Nachricht von mir an der falschen Stelle ausgerichtet und zu spät weitergegeben wurde und deshalb eines Morgens niemand kam um mich aus dem Bett zu holen. Als eine halbe Stunde verstrichen war und ich in der Zentrale anrufen wollte, stellte ich mit Schrecken fest, dass der Akku meines Telefons über Nacht leer geworden war und ich keine Verbindung herstellen konnte. Ich war also von der Außenwelt abgeschnitten und auf mich allein gestellt, wenn nicht doch noch jemand kam. Nach etwa zehn Minuten läutete das Telefon, aber ich konnte nicht antworten - die Ladung reichte nicht! Es läutete immer wieder, doch ich konnte mich einfach nicht bemerkbar machen; mein Hilferuf würde nicht durch die Leitung kommen, das war mir klar. Meine Blase begann nun auch schon zu drücken und verlangte nach Entleerung. Es musste also etwas geschehen, und wenn mir nicht bald jemand zu Hilfe kam, dann würde ich mir eben selbst helfen müssen. Wenn es mir nur irgendwie gelang, mich (wenn auch nur im Nachthemd) in den Rollstuhl hinüberzuziehen, konnte ich zum Tischtelephon im anderen Zimmer fahren und mir Hilfe rufen. Es schien mir zwar fast unmöglich, noch dazu ohne das Rutschbrett, das außer Reichweite beim Fenster lag, aber ich musste es einfach versuchen. Ein Bekannter hatte zwar vage versprochen, er würde mich am Nachmittag, vielleicht aber auch erst am nächsten Tag besuchen, um auf meinem Computer ein neues Programm zu installieren, aber darauf konnte ich mich nicht verlassen. Ein anderer Bekannter hatte sich für den nächsten Vormittag angesagt, und auch meine Mutter würde erst mehrere Stunden nach ihm kommen. Als ich mich zum Handeln entschlossen hatte, schlug ich die Bettdecke zur Seite und schob langsam meine Beine aus dem Bett und stellte sie schließlich auf das Fußbrett meines Rollstuhls, der dicht neben meinem Bett stand. Dann griff ich nach der Armlehne und zog mich daran mit dem Rumpf aus dem Bett und versuchte schließlich, den Oberkörper an der Rückenlehne vorbei auf den Sitz zu bringen, doch ich schaffte es einfach nicht. Meine Armmuskeln und Hände wären zwar kräftig genug gewesen, doch meine Hüften waren viel zu steif, ich kam nicht nach vorne. Es gelang mir zwar, die Steuerung einzuschalten und den Steuerknüppel zu drücken, doch ich merkte sofort, dass ich so keinen Meter fahren konnte ohne vom Stuhl zu fallen. Das rettende zweite Telefon war also weiterhin unerreichbar, und in das immerhin recht bequeme Bett konnte ich auch nicht mehr zurück; ich hatte meine Situation nur verschlechtert anstatt sie zu verbessern. Meine Lage war nun auch noch unbequem und schmerzhaft, da ich teilweise auf Metallstangen saß oder lag, und ich musste zudem befürchten, dass meine Haut Schaden nehmen würde. Immerhin schaffte ich es, die Decke aus dem Bett zu ziehen und über meine nackten Beine gleiten zu lassen, die allmählich kalt werden würden. Auch den Kopf konnte ich wenigstens relativ komfortabel auf dem Rand der Matratze ablegen; ich hätte sonst wohl kaum die Kraft gehabt, ihn längere Zeit in einer angenehmen Position zu halten und nicht nach hinten hängen zu lassen. Wieder klingelte das Telefon, doch es war sinnlos, danach zu greifen. Irgendjemand dachte an mich, wollte mit mir Kontakt aufnehmen, und doch fühlte ich mich so allein und verlassen wie kaum jemals zuvor in meinem Leben. Wenn es eine Hölle gibt, dann könnte eine ihrer Abteilungen so ähnlich aussehen, dachte ich. Kein Feuer, keine Folterwerkzeuge waren notwendig, um einen Menschen leiden zu lassen; nicht die ewige Verdammnis, allein die Möglichkeit, so den Rest des Tages und sogar die ganze Nacht zubringen zu müssen, reichten aus, bei mir Todesangst auszulösen. Bedrohliche, alptraumhafte Szenen aus der Literatur kamen mir in den Sinn, wie E.A. Poes „Grube und Pendel“, oder Ambrose Bierce und Kafka. Wenn ich nicht bald Wasser lassen konnte, würde mich die Blase immer mehr quälen; wenn ich nichts trank, war das für die Nieren gefährlich. Am ehesten konnte ich noch auf das Essen verzichten, doch die Schmerzen am Gesäß machten mich verrückt. Wenn ich noch lang so liegen musste, würde ich mindestens eine offene Wunde davontragen und längere Zeit nicht mehr sitzen können. Meine Rumpfmuskulatur begann sich durch die unbequeme Stellung zu verspannen, der linke Arm wurde auch allmählich steif und verkrampft. In welchem Zustand würde man mich vorfinden, wenn irgendwann endlich jemand kam? Vermutlich würde ich dann schon mehr tot als lebendig sein, ein Häufchen Elend.


Wieder läutete das Telefon. Wenn ich wenigstens den Türöffner mit der Gegensprechanlage für den Hauseingang erreichen könnte! Vielleicht läutete einer dieser Prospektverteiler an, die mir damit schon so oft auf die Nerven gegangen waren, und vielleicht verstand er sogar genug Deutsch, um sich in meine Wohnung lotsen zu lassen? Sogar die Zeugen Jehovas wären mir willkommen gewesen, ich hätte das sogar als Fingerzeig Gottes und als einen Beweis für seine unendliche Güte betrachtet, doch ich war offensichtlich von Gott und allen guten Geistern verlassen. Plötzlich hörte ich in der Wohnung über mir Geräusche. Schon einige Male hatte ich mich über diese Mitbewohner geärgert, weil sie unter Missachtung der vorgeschriebenen Zimmerlautstärke bis nach Mitternacht gefeiert hatten und mich ihre lauten Gespräche um den für mich so wichtigen Schlaf brachten. Wenn ich sie so gut gehört hatte, müssten sie mich doch auch hören! Ich schrie, so laut ich mit meiner vor Durst heiseren Stimme konnte, um Hilfe, dreimal, vier Mal, bis ich nicht mehr konnte, doch niemand kam um nachzusehen. „Blöde Arschlöcher“, stöhnte ich verzweifelt. Nicht einmal das konnte man von diesen Idioten erwarten. Irgendwann würde ich ihnen persönlich die Meinung sagen, wenn ich mich wieder von dieser Tortur erholt hatte. Das Fernsehgerät lief noch immer, die Fernbedienung war auf den Boden gefallen und damit aus meiner Reichweite. Bei dieser Lautstärke würde ich nicht einmal schlafen können, wenn ich die Nacht wirklich zwischen Bett und Rollstuhl verbringen musste. Am Morgen war noch eine interessante Nachrichtensendung auf dem Programm gestanden, doch nun am Vormittag hatte gerade eine dieser schauderhaften Konzerte mit einer Mischung aus deutschen Schlagern, Operettenstücken und volkstümlicher Musik begonnen, mit Leuten wie Dagmar Koller, Hansi Hinterseer, Roberto Blanco und Karel Gott, diversen Jodler Königinnen und singenden Wunderkindern in Dirndln und Lederhosen. War denn das Maß noch nicht voll? Sollte mir nichts, aber auch schon gar nichts erspart bleiben? Musste nicht nur mein Körper, sondern auch noch mein musikalischer Geschmack bis aufs Blut gequält werden? Szenen aus „A Clockwork Orange“ tauchten vor meinem inneren Auge auf, ein sich verzweifelt in seiner Zwangsjacke windender Malcolm McDowell, der es nicht mehr erträgt, seinen abgöttisch verehrten Beethoven zu hören, aber immer wieder dazu gezwungen wird, um für seine Sünden zu büßen. Dennoch war ich für diese Ablenkung sogar noch in gewissem Sinne noch dankbar, weil mich der Ärger über diese seichten Darbietungen wenigstens von meinen Schmerzen und Ängsten ablenkte und die Zeit schneller vergehen ließ. Immer wieder klingelte das Telefon, und daran knüpfte ich die Hoffnung, dass vielleicht doch einmal jemand kommen würde um nachzuschauen warum ich mich nicht meldete. Andererseits mochten die Anrufer auch ganz einfach annehmen, ich sei nicht zu Hause. Wer mich allerdings gut kannte, wusste, dass ich am frühen Nachmittag immer im Bett lag und sicher erreichbar war. So zogen sich die Stunden zwischen Hoffen und Bangen dahin, die Schmerzen wurden immer stärker, die Blase hielt immer noch dicht (hätte ich doch nur einfach auf den Boden pinkeln können!), und die Zunge klebte vor lauter Durst schon beinahe am Gaumen, als endlich, so gegen 5 Uhr Nachmittag jemand die Wohnungstür öffnete und ich Schritte im Vorzimmer hörte. „Hier bin ich!“ brüllte ich durch die geschlossene Schlafzimmertür. Plötzlich stand meine Mutter vor mir, ganz entsetzt blickte sie, als sie mich so fand. „Schnell! Hol Hilfe! Klingle einfach bei allen Nachbarn, bis jemand kommt!“ schrie ich, als ich merkte, dass sie zu erschrocken war um selbst etwas zu unternehmen. Da sie niemanden finden konnte, ließ ich mir das andere Telefon reichen und rief meinen alten Freund Sepp an, der ganz in der Nähe in einer Bibliothek arbeitete. In 5 Minuten war er zur Stelle, setzte mich in den Rollstuhl und zog mich an. Nachdem ich einen geharnischten Beschwerdebrief an die Geschäftsleitung geschickt hatte, konnte ich sicher sein, von da an einigermaßen pünktlich und verlässlich betreut zu werden. Zu meinem Glück wurde dann auch noch nach einiger Zeit die Bezirkszuteilung für Pflegedienste geändert und ich in die Betreuung einer anderen Organisation übergeben. Anstelle der ständig wechselnden Pflegepersonen bekam ich nun eine Hauptbetreuerin, die fast täglich am Morgen und zu Mittag zu mir kommt. Der Abenddienst verteilt sich auf etwa vier bis fünf andere Schwestern und Pflegehelferinnen. Seither hat sich für mich manches zum Guten gewendet; ich habe nun wirklich das beruhigende Gefühl, in guten Händen zu sein und mir über meine Pflege keine Sorgen machen zu müssen. Ich kann nun wirklich jederzeit über die Zentrale jemanden erreichen, und ich werde oft sogar bei relativ kleinen Verspätungen informiert. Meistens bin ich am Morgen wegen meiner übervollen Blase schon froh, wenn ich pünktlich um 7 h morgens (selbst an Sonn- und Feiertagen) aus dem Bett geholt werde, da mir jede Verzögerung große Schmerzen verursachen könnte. Bin ich einmal in der Nacht stundenlang wach gelegen und erst in den Morgenstunden eingedöst, muss ich  trotzdem zur ausgemachten Zeit aus den Federn und sitze dann ganz be­nommen und todmüde im Rollstuhl, bis mich der starke Frühstückskaffee etwas aufmuntert. Die zur Vermeidung von Hautdefekten und Muskelverspannungen notwendige Mittagspause im Bett fiel vor allem in den kälteren Monaten gerade in die Tageszeit, wo ich am ehesten Sonne und frische Luft tanken hätte können und ließ sich leider nicht immer so flexibel regeln, wie es meinen Bedürfnissen entsprochen hätte und bei privater Betreuung durch Familienangehörige oder eine Lebensgefährtin möglich gewesen wäre. Daher informierte ich mich im Internet über technische Hilfsmittel, die mir bei der Bewältigung dieses Problems von Nutzen sein und meinen Tagesablauf weiter normalisieren konnten. Dabei stieß ich auf ein neuartiges Rollstuhlmodell, mit dem man nicht nur sitzen, sondern auch stehen und auch liegen konnte und das daher auch geeignet schien, mir tagsüber kurzfristig und völlig flexibel und ohne fremde Hilfe die Bettruhe zu ersetzen. Erwartungsgemäß erwies sich dieses Wunderwerk der Technik als nicht gerade billig: Mit allen notwendigen Extras und individuellen Adaptionen würde es an die 20000 € kosten, ein stolzer Preis, für den man auch schon ein sehr komfortables Auto bekommen könnte und der für mich kaum erschwinglich gewesen wäre, hätte sich nicht die Unfallversicherung bereit erklärt, für die Kosten aufzukommen, da ich doch auf überzeugende Weise plausibel machen konnte, wie sehr ein solches Fahrzeug meine Lebensqualität und vor allem meine Unabhängigkeit erhöhen würde. In der Tat hat sich seit der Anschaffung des neuen Elektrorollstuhls für mich sehr viel geändert: Statt der bis dahin 4 Besuche von Pflegerinnen pro Tag sind nur noch 2 Termine nötig; statt etwa 8 Stunden kann ich nun mindestens 12 Stunden, und zwar  nun auch ohne Unterbrechung, im Rollstuhl verbringen und so wirklich mobil bleiben und verschiedensten Beschäftigungen nachgehen und auch vor allem während der wärmeren Jahreszeiten viel mehr Zeit außer Haus verbringen. Auch am Abend fällt es mir nun leichter, kulturelle Veranstaltungen zu besuchen, da mir die bequemerweise stufenlos verstellbare Rückenlehne das sitzen bis spät in die Nacht ermöglicht, was mir früher durch die starre Sitzhaltung doch viel Mühe und Schmerzen verursacht hatte.


Trotz dieser deutlichen Verbesserung meiner Lebensumstände wusste ich, dass ich es mir nicht gestatten durfte, mich mit dieser Situation zufrieden zu geben und dass ich mein wichtigstes Ziel, nämlich meine Heilung, immer im Auge behalten musste. Ich nahm meine Qi-Gong-Übungen wieder auf, die ich in den vergangenen Monaten eher vernachlässigt hatte, trainierte auch sonst mehr und engagierte schließlich auch eine Physio-Therapeutin, die mir von meinem Arzt empfohlen worden war. Diese körperlichen Aktivitäten bedeuteten für mich nicht nur eine Ablenkung von meinen trüben Gedanken, sondern gaben mir natürlich auch mehr Energie und Schwung.


Neben meinem täglichen Training ergab sich unverhofft für mich eine Beschäftigungstherapie anderer Art, als mir eine Studienkollegin einen Übersetzungsauftrag für ein großes internationales Kunst-Festival verschaffte. Da ich zusätzlich zu meinen Sprachkenntnissen als ehemaliger Kunsterzieher auch noch über das nötige Fachwissen verfügte, war ich für diesen Job wie geschaffen. Obwohl ich sehr gut bezahlt wurde, zählte für mich in erster Linie die Befriedigung, endlich einmal „richtig“ arbeiten und etwas „leisten“ zu können, wieder ein „nützliches Mitglied der Gesellschaft“ zu sein. Da man an­scheinend mit meiner Arbeit sehr zufrieden war, wurde ich als Spezialist weiterempfohlen und war bald so mit Arbeit ausgelastet, dass für private Probleme kaum noch Zeit blieb. Außerdem gab ich noch Privatunterricht und half einer Freundin bei der Buchhaltung für ihr Geschäft, entwarf Visitenkarten und Plakate, hatte also ein recht vielseitiges Programm, das die wenigen Stunden, die ich nicht im Bett verbringen musste, mehr als ausfüllte. Natürlich erledigte ich diese Arbeiten zumeist mit meinem Computer und per Fax und E-Mail, so dass ich dazu meine Wohnung nicht einmal zu verlassen brauchte.


Zweifellos tat mir die viele Arbeit in jeder Hinsicht gut, doch wenn schon gesunde Menschen Erholung und Urlaub brauchten, dann hatte ich ihn noch viel dringender nötig. Ich empfand es nämlich ohnehin schon als Fulltime-Job, rund um die Uhr Tag für Tag im Rollstuhl zu sitzen. Für einen Querschnittgelähmten gibt es keinen Feierabend, kein Wochenende; ist man gelähmt, dann ist man es  24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche und 365 Tage im Jahr. Nur der Schlaf bietet kurzfristiges Entkommen aus diesem realen Alptraum, doch selbst dafür habe ich einen hohen Preis zu bezahlen: Jeden Morgen unmittelbar nach dem Erwachen sind durch das lange Liegen in unveränderter Position alle Muskeln steif, die Gelenke knacken und schmerzen bei jeder Bewegung, was erst nach längeren Lockerungsübungen allmählich nachlässt. Jedenfalls war ich schon lange „reif für die Insel“, da ich schon seit mehr als zwei Jahren keinen Urlaub mehr gehabt hatte. Früher hatte ich manchmal bis zu drei Auslandsreisen im Jahr unternommen, nun saß ich in meiner Wohnung fest, obwohl ich genug Zeit und Geld für jede noch so weite Reise gehabt hätte. Jeder Reisebericht im Fernsehen, jede Ansichtskarte erinnerte mich daran, dass mir die Welt nicht länger offenstand, dass ich nun auf diesen früher für mich so selbstverständlichen Luxus verzichten musste. Natürlich gibt es viele Rollstuhlfahrer, die regelmäßig Reisen unternehmen, doch sind diese in weitaus besserer Verfassung als ich und haben außerdem Angehörige, die sie begleiten und pflegen können.


Schließlich machte mich mein Betreuer von der Unfallversicherung auf die Möglichkeit aufmerksam, einen mehrwöchigen Kuraufenthalt an der Adria machen zu können, bei dem für medizinische Betreuung und Physio-Therapie gesorgt war. Da ich keine Begleitung hatte, organisierte man für mich, dass eine junge Pflegehelferin mitkam, die auf diese Weise ihr Abschluss Praktikum ablegen konnte und wie ich weder für die Reise noch für Unterbringung und Verpflegung etwas zu zahlen hatte. Sie war mir bei allen Dingen behilflich, die sonst die Hauskrankenpflege erledigte; für alles Übrige sorgte das dortige Hauspersonal. Trotz des großen Altersunterschiedes freundeten wir uns schnell an, unterhielten uns ausgezeichnet und blieben auch nach Ende des Urlaubs weiter in Kontakt. Ohne sie wäre der ganze Aufenthalt nicht möglich gewesen, zumindest aber nicht so angenehm verlaufen, da ich unter den übrigen Gästen, die zum größten Teil nur leicht behindert waren, bei aller Toleranz kaum interessante und sympathische Gesprächspartner gefunden hätte. Viele von ihnen schienen diesen Urlaub nur als günstige Gelegenheit für eine Trinkkur der besonderen Art zu betrachten und führten sich oft so laut und rücksichtslos auf, dass ich mich für meine Landsleute schämte, und wer solche Zeitgenossen wochenlang hautnah erleben muss, hält den von dem legendären Kabarettisten Qualtinger erfundenen und verkörperten Travnicek („Wir benehmen uns überall so, wo wir hinkommen, lauter so Burschen wie ich!“) nicht mehr für eine böswillige Übertreibung. Für mich war an dem Urlaub natürlich der Tapetenwechsel wichtig, nachdem ich so lange Zeit wie ein Gefangener gelebt hatte. Auf das Meer hinauszuschauen, die Strandpromenade entlangzufahren und Sonnenuntergänge zu fotografieren bedeutete mir nun mehr als je zuvor, ich genoss die Fahrt durch das malerische alte Hafenviertel und die lauen Abende auf den Restaurant-Terrassen. Obwohl ich Nichtschwimmer war und deshalb nie einen typischen Badeurlaub machen wollte, hatten mich Inseln und Küstenregionen immer besonders fasziniert, was wahrscheinlich an dem angenehmen Klima und der Fülle von fotografischen Motiven lag, denen ich nachjagen konnte.


Trotz der reizvollen Umgebung und der vorbildlichen Pflege war ich schließlich doch froh, wieder nach Hause zurückzukehren, da der völlig geänderte Tagesablauf und der Klimawechsel für mich doch sehr strapaziös gewesen waren. Immerhin war es mir aber gelungen, aus dem ewigen Alltagstrott für eine Weile auszubrechen und neue Eindrücke zu sammeln. Außerdem wusste ich nun, dass Reisen auch für mich noch immer möglich, wenn auch kompliziert und anstrengend war. Deshalb würde ich mich auch in Zukunft von meiner Behinderung nicht abhalten lassen und jede Gelegenheit für eine interessante Reise nützen, sofern ich geeignete Personen für meine Betreuung finden konnte. Ich wollte überhaupt versuchen, den Rest dieses Lebens so angenehm und interessant wie nur möglich zu verbringen und dafür meine ganze Willenskraft, Intelligenz und Kreativität aufbieten. Mein ungebrochener Hang zum Perfektionismus ließ es einfach nicht zu, dass ich mich mit dem Status Quo abfand und nichts zur Verbesserung meiner Lage unternahm. Nichts sollte mir zu teuer sein, nichts undenkbar, und niemand, vor allem nicht ich selbst sollte mir einmal vorwerfen können, ich hätte nicht alles versucht und freiwillig auf irgendetwas verzichtet, das mir gut tun und Freude bereiten konnte. Ich wollte endlich all die Dinge ignorieren, die ich nicht mehr tun konnte, und statt dessen herausfinden, wozu ich trotz allem noch fähig war und welche angenehmen Überraschungen das Leben für mich noch bereit hielt. Es gab noch viel für mich zu tun, also würde ich an alle weiteren Aufgaben ebenso entschlossen herangehen, wie ich es im Lebensabschnitt vor meinem Unfall getan hatte.


Ich nahm noch immer die chinesische Medizin, allerdings mit höchst zwiespältigen Gefühlen. Ich hatte ja im Laufe der Kur gewisse Fortschritte gemacht, doch war bis dahin der erhoffte spektakuläre Erfolg, der entscheidende Durchbruch noch immer ausgeblieben. Man hatte mich ja auf die schmerzhaften Nebenwirkungen, die mich oft an den Rand der Verzweiflung trieben, rechtzeitig hingewiesen und mir geraten, trotz allem durchzuhalten. Man hatte mir auch gesagt, dass die Behandlung sehr langwierig sein konnte und dass manche Patienten wegen der Schmerzen vorzeitig aufgegeben hätten. Es lag einfach nicht in meiner Natur, so schnell aufzugeben, noch dazu etwas, das möglicherweise die einzige verbliebene Hoffnung darstellte, an die ich mich noch klammern konnte. Trotzdem verfolgte mich oft der Gedanke, dass ich zusätzlich zu meinen ohnehin schon übermächtigen Problemen auch noch freiwillig die Qualen dieser Therapie auf mich nahm, die sich vielleicht einmal als weiterer Irrtum entpuppen konnte. So war ich zwischen Angst und Hoffnung hin und her gerissen und einem unvorstellbaren körperlichen und seelischen Stress ausgesetzt, der allen Behinderten mit einer kompletten Lähmung erspart blieb, da sie wenigstens wussten, woran sie waren, und sich mit ihrem unabänderlichen Schicksal deshalb wahrscheinlich leichter abfinden konnten, wie ich vermute.


Als ich die chinesischen Kräuter schon länger als ein Jahr eingenommen und wieder einmal eine längere Phase mit fürchterlichen Schmerzen durchgemacht hatte, bot mir Waltraud, eine sehr gute Freundin, die mich schon vor meinem Unfall mit Akupunkt-Massage behandelt hatte und die auch sonst für mich sehr viel zur Erleichterung meines schlimmen Schicksals getan hat, ihre Hilfe an. Diese sanfte Therapieform, die ähnlich wie Akupunktur für eine ausgewogene Verteilung von positiven und negativen (Yin und Yang) Energien im Körper sorgt, tat mir wirklich gut, und nach einigen Wochen ließen die Beschwerden langsam nach. Zur Unterstützung dieser Behandlung empfahl sie mir eine biologische Entgiftungskur mit Naturpräparaten aus Algen, die sich ebenfalls auf mein Gesamtbefinden sehr positiv auswirkte. Mein linker Arm, der immer so steif und verkrampft gewesen war, wurde lockerer und kräftiger, auch die Rumpfmuskulatur war jetzt etwas beweglicher. Deshalb versuchte ich nun auch, ohne Hilfe aus dem Bett zu kommen, was mir bis dahin noch nie gelungen war und ja einmal recht schlimme Folgen für mich gehabt hatte. Es galt, meine immer noch bescheidenen Kräfte mit allen mir zur Verfügung stehenden technischen Tricks zu unterstützen und so optimal einzusetzen. Ich fuhr mit dem Bett in die Höhe, um ein Gefälle zum Rollstuhl zu erzeugen, schob meine Beine aus dem Bett und ließ mich über das Rutschbrett auf das Sitzkissen gleiten, wobei ich mich an den Rollstuhlgriffen hinüberzog. Mit Hilfe des Elektromotors richtete ich auch meinen Oberkörper so weit auf, dass ich die seitliche Rollstuhl-Armlehne erreichen und mich an ihr vollends in die ideale Sitzposition ziehen konnte.

Meine Pflegerin, die nur zur Sicherheit neben mir gestanden war, wollte ihren Augen kaum trauen. Auch ich selbst konnte es zunächst nicht fassen, dass ich es zum ersten Mal tatsächlich ganz allein geschafft hatte. Ich wünschte nur, all die Leute im Rehabilitationszentrum, die mir so gut wie gar nichts zugetraut hatten und mich in ein Pflegeheim abschieben wollten, hätten mich nun sehen können. Von allen Einschränkungen, mit denen ich zu leben hatte, war für mich das hilflose Liegen im Bett, das Gefühl, im Notfall wie ein auf dem Rücken zappelnder Käfer allen Gefahren ausgeliefert zu sein, eine der schlimmsten und frustrierenden gewesen. Deshalb bereitete es mir abgesehen von der sportlichen und technischen Leistung eine große Genugtuung, einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zu meiner Selbständigkeit getan zu haben. Er sollte aber nicht der letzte bleiben, sondern mich vielmehr zu weiteren Leistungen anspornen. Daher intensivierte ich auch mein Krafttraining und die Qi-Gong-Übungen, machte bald weitere Fortschritte, konnte mich endlich richtig mit durchgestreckten Armen aus dem Rollstuhl hochstemmen und mit viel Mühe auch Hemden und Pullover allein an- und ausziehen, was mir sehr lange Zeit nicht geglückt war. So hatte ich endlich die Möglichkeit, mich vom langen Sitzen auszuruhen, wenn eine Schwester einmal aus irgendeinem Grund viel zu spät kam und meine Schmerzen zu stark wurden. Sobald ich länger als vier Stunden ohne Unterbrechung sitzen musste, verstärkte der Druck auf die Oberschenkelmuskeln die stets unterschwellig lauernden Nervenschmerzen. Auch der Rücken tat mir dann oft weh, weil ich mich nicht vorbeugen und von der Rückenlehne wegdrücken konnte, was an meinem verkalkten und daher fast völlig unbeweglichen Hüftgelenk lag, wie meine Physio-Therapeutin meinte. Schon allein aus diesem Grund riet sie mir, ein künstliches Gelenk implantieren zu lassen.


Mir war nicht wohl bei diesem Gedanken, denn mit meiner verschraubten Halswirbelsäule und meiner Pumpe im Bauch fühlte ich mich ohnedies schon manchmal wie ein Cyborg, eine Mischung aus Mensch und Roboter. Vielleicht wäre es aber überhaupt besser, nur noch eine gut funktionierende, intelligente Maschine ohne Gefühle und Schmerzen zu sein, spann ich meine Science-Fiction-Tagträume weiter. Heutzutage ließ sich ja schon beinahe jedes Organ ersetzen, und irgendwann in ferner Zukunft würde man möglicherweise sogar Verletzungen des Rückenmarks und der Nervenstränge durch besonders leistungsfähige Microchips oder künstlich gezüchtetes Nervengewebe überbrücken können und so die Querschnittlähmung überwinden. Ein ganz neuer, erfolgversprechender Ansatz, der sich allerdings erst im Stadium der Tierversuche befindet, wird am Institut für Hirnforschung an der Universität Zürich versucht, wo man körpereigene Proteine, die das Zusammenwachsen durchtrennter Nervenbahnen blockieren, durch spezielle Antikörper neutralisiert. Das weckt natürlich ungeahnte Hoffnungen für Querschnittgelähmte auf der ganzen Welt, aber würde ich noch davon profitieren können? Sollte ich wirklich für einen vergleichsweise kleinen Fortschritt den Versuch wagen und die große physische und psychische Belastung einer weiteren Operation auf mich nehmen? Einerseits hatte ich Angst vor den Schmerzen, die nach dem Eingriff auftreten konnten, andererseits hielt ich es auch für möglich, dass die Verkalkung nicht nur an den Schmerzen beim Sitzen schuld war, sondern auch meine Beweglichkeit sogar noch mehr als die Lähmung selbst beeinträchtigte. Da ich nämlich meinen Oberkörper nicht nach vorne beugen konnte, schaffte ich es auch nicht, das Becken zu heben und so den Schwerpunkt derart zu verlagern, wie es für den schulmäßigen Transfer zwischen Rollstuhl und Bett nötig war. Jedenfalls musste eine derartige Entscheidung gut überlegt werden, daher wollte ich mich zuerst noch von verschiedenen Spezialisten untersuchen und beraten lassen.


Schließlich kam ich auf Empfehlung einer Krankenschwester, die dort früher gearbeitet hatte und auch schon als Patientin gewesen war, in einer orthopädischen Spezialklinik unter, wobei sich dann auch noch zu meiner großen Überraschung herausstellte, dass dort schon seit mehreren Jahren ein alter Schulkollege von mir als Arzt arbeitete, allerdings in einer anderen Abteilung. Die Röntgenuntersuchungen und Tomographien zeigten, dass eine Operation schon längst erforderlich gewesen wäre, der Eingriff aber äußerst schwierig und mit großem Blutverlust verbunden sein würde. Auch sei trotz anschließender prophylaktischer Therapie eine neuerliche Verknöcherung dieses Bereiches nicht völlig auszuschließen. Trotzdem entschloss ich mich, das Risiko auf mich zu nehmen, da ich den Eindruck hatte, auf die Kompetenz und Sorgfalt dieser Spezialisten vertrauen zu können. Tatsächlich verlief die Operation ohne Komplikationen, und wenigstens meine passive Beweglichkeit hatte sich ganz deutlich verbessert, wenn auch die Kräfte fehlten. Beide Beine ließen sich nun im Liegen gleich gut ausstrecken, und ich war noch nie so aufrecht und symmetrisch im Rollstuhl gesessen wie jetzt. Auch den Oberkörper konnte ich nun nach vorne beugen, wenn auch nicht sehr weit. Um mich vom Blutverlust zu erholen und die riesige Wunde verwachsen zu lassen, musste ich aber doch sechs Wochen zur Rehabilitation bleiben, bis ich wieder in häusliche Pflege entlassen werden konnte. Naturgemäß hatte der Eingriff meinen gesamten Körper geschwächt, die lange Bettruhe zu Muskelschwund geführt. Daher nahm ich sofort wieder die Heilgymnastik und Bewegungsübungen mit meiner Therapeutin auf, die allerdings nur einmal wöchentlich für mich Zeit hatte. Außerdem bewilligte mir der Chefarzt der Krankenkasse, einer dieser Halbgötter in Weiß, in seiner unendlichen Güte und Weisheit nur eine begrenzte Zahl der ziemlich kostspieligen Behandlungen, von denen dann überdies nur knapp die Hälfte vergütet wurde. Zuerst hatte man mir nahegelegt, mich für einige Wochen zum Wiederholungstraining in das Rehabilitationszentrum zu begeben, was ich jedoch sofort strikt abgelehnt hatte. Einerseits wollte ich nach dem ohnehin sehr langen Krankenhausaufenthalt endlich wieder zu Hause bleiben und mein gewohntes Leben wieder aufnehmen. Andererseits war schon mein letzter Kurzbesuch im Rehabilitationszentrum so unerfreulich verlaufen, dass mir ein weiterer Versuch als reine Zeitverschwendung (vom Geld gar nicht zu reden) erschienen wäre. Man hatte mich nämlich als vierten Mann in ein vollbesetztes Dreibettzimmer gelegt (wo doch gerade Rollstuhlfahrer besonders viel Platz brauchen), die Therapeutinnen hatten kaum Zeit für mich gehabt und mich die meiste Zeit mir selbst überlassen; schließlich hatte ich mir noch eine schwere Harnwegsinfektion geholt, gegen die mir dann der Oberarzt ein Antibiotikum verabreichte, von dem er eigentlich wissen musste, dass ich dagegen stark allergisch reagieren würde. Abgesehen davon wollte ich auch keineswegs auf das von mir selbst gekochte, wesentlich gesündere Essen verzichten und mich auch sonst nicht mehr von verständnis- und ahnungslosen Ärzten und Krankenschwestern bevormunden lassen, sondern meine Erholung selbst in die Hand nehmen. Überhaupt bin ich nach mehreren unerfreulichen Erfahrungen mit der in ganz Österreich berüchtigten Gebietskrankenkasse (speziell die in meinem Bundesland scheint besonders schlimm zu sein) zu der Vermutung gekommen, dass Chefärzte wahrscheinlich spätestens bei ihrem Amtsantritt den hippokratischen Eid vergessen und nicht länger das Wohl der leidenden Patienten, sondern in erster Linie nur mehr ihr eigenes und das ihrer Krankenkasse im Auge haben. So hat man mir immer wieder bei der Bewilligung und Bezahlung von Krankentransporten mit der Rettung zu Arztterminen und Krankenhausaufenthalten aus den lächerlichsten Gründen Schwierigkeiten gemacht. Auch den Umstand, dass man für die teure, aber ungeheuer wichtige Eigenblutvorsorge vor einer Operation selbst aufkommen muss, während die wesentlich problematischeren Fremdblutinfusionen bezahlt werden, kann man wohl ohne Übertreibung als absurd und unzumutbar bezeichnen.


Als ich endlich wieder nach Hause kam, hatte man mir eine neue Krankenschwester als Betreuerin zugeteilt, die mir sofort auffiel und besonders sympathisch war. Sie hieß Violetta (da sie mütterlicherseits italienischer Abstammung war), schien älter zu sein als die meisten der übrigen Betreuerinnen (sogar etwas älter als ich, wie sie mir später verriet), sah jedoch mit ihrer schlanken, hochgewachsenen Gestalt, ihren kastanienbraunen Locken und ihren großen grünen Augen einfach hinreißend aus und faszinierte mich vor allem durch ihr Temperament, ihre Herzlichkeit und ihren Humor. Seit meinem Unfall hatte ich durch den ständigen Wechsel von Betreuungspersonal zwangsläufig sehr viele Frauen kennengelernt und auch einige davon recht nett und attraktiv gefunden, mich jedoch zu keiner auch nur annähernd so stark hingezogen gefühlt wie zu ihr. Hätte ich sie unter anderen Umständen kennengelernt, wäre ich wohl kaum so zurückhaltend gewesen, sondern hätte wohl alles getan, um sie zu erobern, doch nun, in diesem armseligen Zustand, fehlten mir einfach das Selbstvertrauen und der Mut, ihr meine Gefühle zu gestehen. Jedes Lächeln von ihr empfand ich zwar als Ermutigung, die behutsamen Berührungen ihrer Hände, die manchmal etwas länger zu dauern schienen als unbedingt nötig gewesen wäre, als zärtliches Streicheln, doch führte ich das nur auf reines Wunschdenken zurück.


Nach so langer Zeit der Einsamkeit und der seelischen und körperlichen Qualen war ich richtiggehend ausgehungert nach Liebe und Zärtlichkeit, brauchte sie mehr, als ich sie je als gesunder Mann gebraucht hatte, konnte mir jedoch einfach nicht vorstellen, dass eine so faszinierende Frau für mich mehr als nur Mitleid oder bestenfalls Freundschaft empfinden sollte. Eigentlich konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich noch für irgendeine Frau attraktiv sein könnte. In meinem Rollstuhl war ich ein Gezeichneter, als ob ich einen Stempel auf der Stirn trüge, dachte ich. Während man den meisten Menschen ihre körperlichen (oder gar ihre psychischen)  Probleme nicht gleich anmerkte, konnte jeder und jede auf den ersten Blick von weitem sehen, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass ich von der Norm abwich, dass ich als Partner nicht in Frage kam. Daher wollte ich uns beiden lieber die Peinlichkeit einer (wie es mir schien, unvermeidlichen) Zurückweisung ersparen, die unsere freundschaftliche Beziehung möglicherweise belastet hätte. Die Zweisamkeit ohne Zeugen, der Körperkontakt beim Transfer, wo wir einander doch recht nahe kamen, und meine Nacktheit bei der Körperpflege verliehen unseren Begegnungen ohnehin schon eine Intimität, die ich nicht ausnützen wollte und erforderten von beiden Seiten Takt und Einfühlungsvermögen. Außerdem hatte ich es schon immer, lange bevor das Schlagwort von „sexueller Belästigung am Arbeitsplatz“ zum allgemeinen Sprachgebrauch zählte, tunlichst vermieden, Privatleben und Beruf miteinander zu vermischen, da derartige „Dienstverhältnisse“ erfahrungsgemäß zumeist doch nur zu Komplikationen führten. Bald erzählten wir einander von unserem Leben, unseren Reisen und Träumen, sogar von unseren früheren Beziehungen (sie war geschieden und lebte gerade allein), waren jedoch noch nicht vom förmlichen „Sie“ zum intimeren „Du“ übergegangen. Bevor ich sie kennenlernte, hatte ich mein Äußeres vernachlässigt und das für mich relativ mühsame Rasieren, Zähneputzen und Kämmen nur noch sporadisch erledigt, da ich ja ohnehin meistens allein zu Hause saß und nicht unter die Leute kam. Nun wurde ich wieder ein wenig eitel, wählte auch meine Kleidung sorgfältiger aus. So verging Woche um Woche, in der ich sehnsüchtig ihre für mich viel zu seltenen Besuche erwartete und bei jeder der viel zu kurzen Begegnungen aufblühte, wenn sich auch dabei eine beinahe unerträgliche Spannung aufbaute, die stets vom bitteren Beigeschmack des Verzichts und der nicht ausgelebten Gefühle überlagert wurde.


Als mein 40. Geburtstag herangerückt war, litt ich wieder einmal unter Schmerzen  und Depressionen und war daher nicht in Feierstimmung. Ich bekam zwar Briefe und Anrufe, hatte jedoch keine Lust auf eine Geburtstagsparty und hätte mich am liebsten im hintersten Winkel verkrochen, um mei­nem Schmerz und meiner Enttäuschung über mein zerstörtes Leben nachzuhängen. Der Zufall wollte es, dass gerade an die­sem Abend Violetta zu mir kam. Sie bemerkte auf dem Tisch die Vase mit dem großen Blumenstrauß, den mir meine Tante geschenkt hatte und erkundigte sich nach dem Anlass. Als ich ihr den Grund nannte, gratulierte sie mir herzlich, umarmte mich und küsste mich auf den Mund. Für eine Schrecksekunde war ich wie erstarrt vor Überraschung, dann erwiderte ich ihren Kuss, der für mich das überraschendste und schönste Geburtstagsgeschenk bedeutete, das ich je bekommen hatte. Es tat so gut, die Wärme ihres Körpers zu spüren und den Duft ihrer Haut einzuatmen. Wie lange hatte ich dieses überwältigende Gefühl entbehren müssen, wie sehr hatte ich mich nach der Nähe einer zärtlichen Frau gesehnt! Sie begann mich zu streicheln, unsere Küsse wurden immer leidenschaftlicher, und ich merkte, dass sie ebenso erregt war wie ich...
„Hast du gewusst, dass ich in dich verliebt bin?“, wollte ich wissen.
„Eine Frau spürt das einfach“, antwortete sie mit einem schelmischen Lächeln, „da braucht man nicht viele Worte dafür, ich habe die Sehnsucht und Leidenschaft in deinen Augen gelesen. Hast du denn nicht gemerkt, wie sehr ich dich auch mag?“
Ich war völlig überwältigt von dieser unerwarteten Erfüllung meiner geheimsten Wünsche, die meine Auffassung bestätigte, dass sich Glück, speziell in der Liebe, weder erzwingen, erkaufen noch verdienen lässt, sondern immer als ein Geschenk betrachtet werden muss. Ein großer Teil meiner Probleme schien einmal eine Lösung gefunden zu haben, die mein Leben doch noch zum Positiven wendete. War mir nun endlich in Fleisch und Blut eine der „Barmherzigen Schwestern“ aus einem Song meines  Jugendhelden Leonard Cohen begegnet, der mich mit seiner romantischen Poesie und seiner Rauen, melancholischen Stimme seit so vielen Jahren durch alle emotionalen Höhen und Tiefen meines Lebens begleitet hatte?
 
    THE SISTERS OF MERCY  (Leonard Cohen)

https://www.youtube.com/watch?v=oBFQg7P5YKw


 
Ich schwebte plötzlich wie auf Wolken, war glücklich wie selten zuvor. Endlich hatte ich genau den Menschen gefunden, der meinem Leben einen neuen Sinn geben und aus mir einen neuen, vollwertigen Menschen machen konnte. Violetta hatte bei mir längst abgestorben geglaubte Gefühle und meine Sinne geweckt, doch sie wollte auch meine Beine, wieder in Schwung bringen.
„Du weißt, dass ich dich so mag wie du bist, aber ich glaube, dass noch mehr in dir steckt. Wenn wir es zusammen versuchen, kannst du noch viel stärker werden!“
Von nun an würde sie jeden Tag mit mir wenigstens einige Minuten lang trainieren. Außerdem brachte sie mir eine Bücher über Mentaltraining, eine Art Mischung aus positivem Denken und autogenem Training, die sie selbst mit Erfolg praktiziert und die auch mir bereits, wie ich glaube, etwas geholfen hat. Sie nahm auch die sich selbst gestellte neue Aufgabe so ernst, dass sie sich sogar von einer Physio-Therapeutin einige Übungen zeigen ließ, die sie dann mit mir allein durchführen konnte, und gab das so gelernte auch an einige Kolleginnen und Kollegen weiter, die mich hin und wieder auch betreuten. Obwohl sie nicht über die Ausbildung und Erfahrung einer professionellen Therapeutin verfügte, machte sie nun auch ihre Sache als Trainerin wirklich gut, beinahe besser und effizienter als die Leute in dem Rehab-Zentrum, wo ich trotz meines langen Aufenthaltes keine befriedigenden Fortschritte erzielt hatte. Nach einigen Wochen konnte ich dann tatsächlich durch dieses relativ intensive Training wenigstens die Kräfte wiedergewinnen, die ich durch den langen Spitalsaufenthalt verloren hatte.


Etwa ein halbes Jahr nach meiner Operation waren meine Beine durch die täglichen Übungen so kräftig geworden, dass ich versuchen wollte, wenigstens für kurze Zeit auf meinen eigenen Beinen zu stehen. Ich benötigte zwar zum Aufstehen noch Violettas Hilfe und musste mich dann auch noch an ihrer Schulter festhalten, schaffte es aber doch immerhin, meine Knie etwa eine Minute lang durchzudrücken und den größten Teil meines Gewichtes tragen zu lassen, was für mich eine sensationelle, bis dahin für unmöglich gehaltene Leistung bedeutete.
Wir konnten zwar stolz auf das so erreichte Ergebnis sein, mein Ehrgeiz ließ es jedoch nicht zu, mich mit dieser ohnehin schon beachtlichen Leistung zufriedenzugeben. Vielmehr machte ich mir nun Hoffnungen, durch weiteres, womöglich noch intensiveres Training noch mehr zu erreichen. Wenn es nur darum ging, die Muskeln noch weiter zu stärken und dem Kräftezuwachs nicht durch die geschädigten Nervenbahnen eine unüberwindliche Grenze gesetzt war, müsste ich so irgendwann dazu fähig sein, nach und nach zwischen den Holmen eines Barrens und schließlich vielleicht sogar mit Krücken gehen zu können. Tatsächlich gelang es mir schon eine Woche später, als auch eine Praktikantin zur Einschulung mitkam, rechts und links auf meine Betreuerinnen gestützt, mit äußerster Anstrengung und Konzentration einige wackelige Schritte zu machen.


Alles schien nun in schönster Ordnung zu sein; mein Leben hatte offenbar noch einmal eine Wende zu Positiven vollzogen, und es würde mit der Zeit noch besser werden. Leider war das Glück, zumindest mein Liebesglück, nur von kurzer Dauer: Violettas Vertrag bei der Hauskrankenpflege war ausgelaufen und nicht mehr verlängert worden, und als dann auch noch ihre Mutter, die in Italien lebte, schwer erkrankte, entschied sie sich dafür, Österreich (und damit leider auch mich) zu verlassen um ihre Mutter zu pflegen.
 
 
Ich hatte darauf gehofft, dass Violetta entweder nach der Gesundung oder dem Tod ihrer Mutter zurückkehren würde, doch Wochen und Monate vergingen ohne eine Entscheidung zum Guten oder Schlechten. Wir schrieben uns zwar regelmäßig und telefonierten auch hin und wieder, doch konnte ich mit dieser Situation nicht wirklich zufrieden sein. Als sie mir schließlich nach etwa einem halben Jahr mitteilte, sie habe dort einen Mann kennengelernt, der sie heiraten wolle und mit dem sie sich auch eine Ehe vorstellen könne, wusste ich, dass ich sie nie mehr wiedersehen würde.  


Es lässt sich denken, dass diese Entwicklung einen schweren Schlag für mich bedeutete. Mein unverhofftes Glück war einfach zu schön gewesen um wahr und dauerhaft zu sein. Vielleicht war es mir einfach nicht vergönnt glücklich zu sein, vielleicht hatte ich wirklich in früheren Leben zu viel negatives Karma angesammelt, das sich immer wieder in allen möglichen Leiden und Enttäuschungen manifestierte? Ich wusste nur zu gut, wie schwer es mir fallen würde sie zu vergessen, und wie schwer es sein würde, jemals wieder eine Partnerin zu finden. Ich wusste aber auch, dass es keinen Sinn hatte, deshalb in Resignation und Passivität zu verfallen. Wenn ich gehen wollte, dann durfte ich mich nicht gehen lassen! Wenn auch meine Seele von neuem verletzt war, so durfte ich deswegen nicht die Heilung meines Körpers aus den Augen verlieren.
Mein Hausarzt hatte mir ein Gerät zur elektrischen Nerven-Stimulation gegen meine Schmerzen verschrieben, das auch gleichzeitig meine Muskulatur kräftigen sollte. Meine Physio-Therapeutin, die jetzt wieder einmal wöchentlich zu mir kam, empfahl mir jedoch ein weitaus wirksameres Gerät, das auch Spitzensportler nach Sportunfällen und Operationen zur Kompensation ihres Muskelschwunds benutzen. Dieses wesentlich kompliziertere und teurere Gerät wurde mir dann aber vom Chefarzt der Gebietskrankenkasse wieder einmal erst nach langem, zähem Ringen bewilligt. Man sollte ja erwarten können, dass die durchaus aussichtsreichen Bemühungen eines mündigen Patienten, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen, von einer Krankenkasse bereitwilligst unterstützt werden, da sie ein an den Rollstuhl gefesselter Patient langfristig teurer kommt, abgesehen von humanitären und ethischen Gesichtspunkten.


Um mein Training weiter zu unterstützen, wollte ich mir zudem noch ein fahrbares Gehgestell besorgen, in dem ich wie ein Kleinkind selbständig, aber gesichert, meine Gehtechnik verfeinern und meine Beine kräftigen konnte. Die herkömmlichen Rollatoren und Gehhilfen, die ich in den diversen Krankenhäusern und im Rehabilitationszentrum gesehen hatte, waren für meinen Zweck (noch) nicht geeignet. Ich war mir sicher gewesen, dass es ein Gerät, das für meinen aktuellen Zustand und meine Zwecke ideal war, auch für Erwachsene geben müsse. Erst nach langem Suchen und Herumfragen fand ich jedoch schließlich genau das Produkt, das ich benötigte. Festgeschnallt in einer Art Windelhose, die an dem fahrbaren Rahmen befestigt war, konnte ich nun ohne Angst meine Schritte setzen; wenn meine Knie einmal vor Erschöpfung nachgaben oder durch eine unvorsichtige Bewegung ein Krampf ausgelöst wurde, konnte mir nichts geschehen. In aller Ruhe konnte ich mich erholen, mich wieder hochrappeln und meinen Weg fortsetzen, und zwar in meinem eigenen Tempo und Rhythmus, was im Vergleich zu dem auf Hilfspersonen (die zudem nicht immer so leicht verfügbar waren) gestützten Gang ein großer Vorteil war; auch konnte ich so mein Körpergewicht viel besser ausbalancieren. Auf diese Weise machte ich nun immer raschere Fortschritte, mein Gang wurde immer sicherer, der Bewegungsablauf immer natürlicher, wie ich auf einer Videoaufzeichnung von meinem Training deutlich sehen konnte.


Trotzdem unternahm ich diese Gehversuche nach wie vor nur in Begleitung, doch nun war selbst das Gehen mit Krücken in realistische, greifbare Nähe gerückt; es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, dass mir auch das gelingen würde. Da es aber selbst unter Aufsicht zu gefährlich war, mich nur auf Krücken oder Stöcke zu stützen und mich ansonsten ganz auf die Kraft meiner Beine zu verlassen, ließ ich mir ein System von Schienen an der Decke meines Vorzimmers montieren, von dem Sicherheitsgurte herabhingen, in die ich mich auch ohne Hilfe einklinken konnte. Damit war es mir nun möglich, meine Gehübungen  jederzeit und so oft ich es wollte, ohne Risiko durchzuführen und mich wenigstens in einem begrenzten Bereich relativ frei zu bewegen.
Mir ist es natürlich klar, dass ich wahrscheinlich nie wieder so gut wie vor meinem Unfall gehen können werde, da ja nicht nur meine Beine, sondern auch meine gesamte Rumpfmuskulatur durch die Verletzung der Halswirbelsäule beeinträchtigt ist. Auch die lästigen  Treppen werden für mich wohl immer unüberwindliche und gefährliche Hindernisse bleiben, denen ich nach meiner in jeder Hinsicht traumatischen Erfahrung schon aus reiner Vorsicht aus dem Weg gehen muss.  Was ich bisher erreicht habe, ist zwar nicht gerade ein großer Schritt für die Menschheit, aber doch ein gewaltiger Schritt für einen scheinbar „hoffnungslosen Fall“.
Eine alte chinesische Weisheit besagt, dass auch eine Reise von tausend Meilen mit einem einzigen Schritt beginnt. Ich glaube, dass ich noch mehr erreichen kann, doch es liegt noch ein langer, mühsamer Weg vor mir. Ich werde ihn gehen -  auf eigenen Beinen!

 

 

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Eine Fortsetzung mit den Erfahrungen und Veränderungen der letzten 7 Jahre ist noch in Arbeit !

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